Tarnów, eine Stadt zwischen 1918 und 1945

Tarnów ist eine alte Stadt im ehemaligen West-Galizien, Sie liegt keine hundert Kilometer östlich von Kraków und war während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg Ort schrecklicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. .

Dr. Agnieszka Wierzcholska.
institut-historique-allemand-paris.

Die Historikerin Agnieszka Wierzcholska hat fast zehn Jahre mit einem mikrohistorischen Ansatz erforscht, was in dieser Stadt zwischen 1918 und 1945 das Zusammenleben der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen bestimmt hat. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung stellt sie am Montag, dem 20. März 2023, anhand ihres 2022 erschienenen Buches „Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben – Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918-1945“ vor.

Altes Rathaus am Ring in Tarnów. TAL
Ort einer ehemaligen Mesusa am Ring. TAL
Die steinerne Bima der ehemaligen Alten Synagoge. TAL

Im Vordergrund stehen die Beziehungen zwischen katholischen Polen und polnischen Juden in der Zeit zwischen den Weltkriegen und während der deutschen Besatzungszeit. Die Ereignisse spielen zwischen dem alten Rathaus auf dem Rynek und der Czacki-Schule im armen jüdischen Wohnviertel Grabówka.

Czacki-Schule in Grabówka / Tarnów. TAL

Dr.Wierzcholska hat deshalb Jahrzehnte von Ratsprotokollen aber auch viele Jahrgänge an Schulunterlagen durchgearbeitet. Dabei zeichnet sie ein Netz von unterschiedlichsten politischen und privaten Beziehungen nach, die dann in der Zeit der deutschen Besatzung und der blutigen Judenverfolgungen über Leben und Tod entscheiden. So kann der Leser nachvollziehen, welche menschlichen Beziehungen und welche zufälligen Ereignisse den Gang der Geschichte in dieser Stadt bestimmt haben.

ul. Żydowska zwischen Ring und ehemaliger Alter Synagoge. TAL
Ehemalige Mikwe. TAL
Der jüdische Friedhof. TAL

In der weitgehend erhaltenen Innenstadt finden sich innerhalb weniger Schritte die steinernen Zeugen dafür: Das Rathaus, der Ring, die Judengasse, die Bima der Alten Synagoge, die ehemalige Mikwe, der jüdische Friedhof und vieles mehr. Und nicht zu vergessen, Menschen, die die Erinnerung an diese Zeit bewahren, wie Adam Bartosz, der ehemalige Direktor des Regional-Museums in Tarnów.

Veranstaltung im CBH PAN in Berlin-Pankow am 20.März 2023. TAL

Die oben angekündigte Veranstaltung im CBH PAN in Berlin-Pankow war gut besucht, der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. In ihrem Vortrag fasste Frau Dr. Wierzcholska noch einmal die wichtigen Eckpunkte ihres Buches zusammen.

So lebten im Polen der Zweiten Republik 75% der Juden in den Städten und 75% der katholischen Polen auf dem Lande. Der mikrohistorische Ansatz vermochte aussagekräftig die Beziehungen von Juden und Polen zu beschreiben. So wurde Politik in Tarnòw entsprechend der vorliegenden Ratsprotokolle bis 1935, dem Todesjahr von Józef Piłsudski, nach pragmatischen Gesichtspunkten und politischer Richtung betrieben. Dann aber in kürzester Zeit nach ethnischer Zuordnung. Mit dem deutschen Einmarsch änderte sich die Situation noch einmal schlagartig. Am 9.November 1939 brannte die alte Synagoge und am 11. Juni 1942 richtete die SS auf dem Rynek ein Blutbad unter den dort zusammengetriebenen Juden an. Gleichzeitig begann die Aktion Reinhard mit der Deportation der Juden ins Vernichtungslager nach Bełżec. Danach erst wurde in Tarnów ein Ghetto eingerichtet. Bereits am 14. Juni 1940 hatte es aber schon die erste Deportation aus Tarnów nach Auschwitz gegeben. Mit 728 Menschen, darunter einigen wenigen Juden, wurde die Stadt weitgehend ihrer Elite beraubt.

Mit der Ermordung der Juden auf dem Rynek und unter den Augen der nichtjüdischen Bevölkerung fand eine abrupte Veränderung der Normen statt. Und eine große Versuchung für die Bystanders: Plötzlich gab es einen umfangreichen herrenlosen Besitz und zahllose freie Wohnungen in Tarnòw. Danach wurden die noch hier lebenden 18 000 Juden in ein Ghetto getrieben, das zu verlassen, bei Todesstrafe verboten war.. Damit befanden sich alle Juden außerhalb des Ghettos in der Hand der nichtjüdischen Bevölkerung. Die Entscheidung, sie zu verraten oder zu schützen, traf dann jeder einzelne aus den unterschiedlichsten Motiven. Die Autorin ist vielen Schicksalen präzise nachgegangen.
Yad Vashem hat in diesem Zusammenhang 23 Familien als Gerechte der Völker anerkannt.

Im folgenden Gespräch mit Prof. Dr. Felix Ackermann, Prof. Dr. Magdalena Saryusz-Wolska und der Autorin wurden weitere Aspekte angesprochen. Zuerst einmal erhielt die Autorin ein vielfaches Lob für ihr ausgesprochen gut lesbares und hervorragend recherchiertes Buch. Es erlaubt eine differenzierte Betrachtung des Geschehens in dieser geschichtlichen Periode und ein besseres Verständnis der Interaktion der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung Polens.
Ein besonderer Aspekt war u.a. das Leben in der Czacki-Schule im Stadtteil Grabówka. Hier waren vor allem die Unterschiede des dokumentierten Schullebens zum tatsächlichen Schulalltag aufschlussreich. Ein weiteres Novum, war die komplexe Rolle des Baudienstes. Er wurde eben nicht nur für Bauvorhaben der Besatzungsmacht sondern alkoholisiert auch bei mörderischen Einsätzen gegen die Juden verwendet, wobei er auch hier nur mit Spaten und Äxten ausgerüstet war.
Wichtig war bei der Rollenzuordnung ob Täter oder Opfer oder Bystander, dass sich die Menschen in diesen Gewaltsituationen eingebunden in keinen statischen Rollen befanden und jeweils in ihrem aktuellen Handeln zu beurteilen waren.

Die Autorin wurde auch befragt, wie sie selbst diese belastenden Recherchen ertragen hatte. Dazu berichtete Wierzcholska, dass sie in dieser Zeit von Alpträumen und den schrecklichen Bildern verfolgt worden sei.
Umso mehr ist der Autorin zu danken, dass sie diese Belastung auf sich genommen, ausgehalten und damit ein für die Geschichtsschreibung ausgesprochen wichtiges Werk geschaffen hat.
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Ein Gedanke zu „Tarnów, eine Stadt zwischen 1918 und 1945“

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