Die Verfolgung und Ermordung der Juden in Tarnów.

Eine polnisch-jüdische Stadt unter deutscher Besatzung 1939–1945

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Zerstörung der Alten Synagoge in Tarnów am 9. November 1939
( Ausstellung Der Kalte Blick in der Topographie des Terrors).

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Am Dienstag, dem 23. Februar 2021 konnten Interessierte den Vortrag der Historikerin Agnieszka Wierzcholska, Osteuropa-Institut der FU Berlin, in der Topographie des Terrors als Livestream verfolgen.
Die Moderation hatte Herr Dr. Ulrich Baumann, Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas.
Dieser Vortrag gehört zu den Begleitveranstaltungen der Ausstellung Der kalte Blick in der Topographie des Terrors. Die Ausstellung ist zur Zeit nur in virtueller Form zu besichtigen.
Frau Wierzcholska hat für Ihre Dissertation zehn Jahre in Tarnów recherchiert und dabei umfangreiches Material zusammengetragen. In ihrem mikrohistorischen Ansatz fand sie Erklärungen für immer wieder gestellte Fragen zum Verhältnis und zur Interaktion zwischen der christlichen und der jüdischen Bevökerungsgruppe Polens.

Im ersten Teil ihres Vortrags analysierte sie die Tagespolitik des Stadtrates von Tarnów zwischen den Jahren 1918 und 1935. Hier gab es fast ausschließlich Entscheidungen nach politischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten, nicht nach ethnischen. Mit dem Tod Pilsudkis 1935 trat eine entscheidende Änderung ein. In der polnischen Innenpolitik war jetzt eine deutliche Erstarkung rechtsgerichteter Kräfte zu beobachten, mit hörbarer Unterstützung der katholischen Kirche. National bewußte, christliche Polen verstanden sich als „Hausherren“, während den jüdischen Polen als „Gästen“ die Gleichberechtigung im polnischen Staat abgesprochen wurde. Der Antisemitismus wurde sichtbarer und erfuhr allgemeine gesellschaftliche Anerkennung. Die „jüdische Frage“ wartete auf eine Lösung.

Im zweiten Teil beleuchtete Frau Wierzcholska die massive gesellschaftliche Kräfteverschiebung, die mit der deutschen Besetzung Polens eintrat. Mit der Aktion Reinhard, der Vernichtung des Judentums im Generalgovernement, erlebten die christlichen Einwohner Tarnóws die Ermordung der Juden buchstäblich vor der eigenen Tür. Diesem Anblick konnten sie einfach nicht ausweichen. Gleichzeitig waren die polnischen Juden praktisch vogelfrei. Sie waren erpressbar, da sie außerhalb des Ghettos jederzeit von christlichen Polen denunziert werden konnten. Der Besitz und die Wohnungen der ermordeten Juden luden unmittelbar jeden dazu ein, sie in Besitz zu nehmen. Nur starke Charaktere konnten dem widerstehen.

Zum Abschluß analysierte Frau Wierzcholska das bestimmende Prinzip , das der asymmetrischen Beziehung christlicher und jüdischer Polen in dieser Situation zugrunde lag. Es gab keine sichere Übereinkunft zwischen beiden Gruppen, einander vertrauen zu können und sich nicht zu verraten. So mussten Juden unterstützende Christen sich der Gefahr bewußt sein, von anderen christlichen Polen bei der deutschen Besatzungsmacht denunziert zu werden. Diese Situation hatte ihren Ursprung auch in dem polnischen Antisemitismus vor Kriegsbeginn, der von der Katholischen Kirche nachdrücklich unterstützt wurde.
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Diese Zusammenhänge erklären auch die Pogrome, die von polnischer Seite während der deutschen Besatzungszeit und nach Kriegsende in Polen stattfanden – bis hin zur letzten aus innenpolitischen Gründen erzwungenen Auswanderungswelle von Juden 1968 aus Polen. Diese Geschehnisse wurden bis heute in Polen nicht aufgearbeitet und sorgen weiterhin für gesellschaftliche und politische Konflikte. Die derzeitige PiS-Regierung bemüht sich im Gegenteil sogar um eine offizielle Umschreibung der Geschichte.

Der Vortrag von Frau Wierzcholska ist zur Zeit noch auf der Website der Topographie des Terrors abrufbar.

Die hier dargestellten Erkenntnisse eignen sich besonders wegen ihrer Anschaulichkeit dafür, dieses weiterhin umstrittene Kapitel polnischer Geschichte jungen Menschen in seiner Dynamik zu vermitteln.
Wir hoffen, dass wir zu diesem Thema in absehbarer Zeit ein Schulprojekt mit polnischen Schülern in Berlin ins Leben rufen können.

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