Wegen des großen Interesses haben wir die Ausstellung
noch einmal im November 2023 in der Hansabibliothek gezeigt.
Die Ausstellung war im Oktober 2022 in der Vitrine vor dem Rathaus Tiergarten zu sehen.
Sie stellte den Abschluss eines Projektes dar, das überwiegend vom Institut für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus / Humboldt Universität zu Berlin und Gleis 69 e.V. getragen worden war.
Die Deportationen vom Güterbahnhof Moabit
Eine Projektion im Jewish Museum in Sydney bringt es auf eine knappe Formel:
Ohne die Deutsche Reichsbahn wäre die Deportation der Europäischen Juden in die Vernichtungslager nicht möglich gewesen.
In Berlin ging der Weg u.a. von den großen Sammellagern in der Levetzowstraße und später in der Großen Hamburger Straße zu den Deportationsbahnhöfen. Das waren der Bahnhof Grunewald, der Güterbahnhof Moabit und der Anhalter Bahnhof.
Der Güterbahnhof Moabit war der größte Deportationsbahnhof Berlins. Hier wurden über 30 000 Berliner Jüdinnen und Juden in die Züge getrieben. Von hier aus ging die Fahrt in die Ghettos und Vernichtungslager im Baltikum, in Weißrußland und Polen. In Berlin begannen die Deportationen im Oktober 1941.
Nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 setzten dann die systematischen Deportationen überwiegend nach Auschwitz aber auch in den Raum Lublin (Piaski) ein.
Auf dem Güterbahnhof Moabit nutzte die SS dafür die sogenannten Militärgleise. Sie waren für das preußische Militär am östlichen Rand des Güterbahnhofes in der Quitzowstraße angelegt worden. Dort verluden die verschiedenen Regimenter Truppen und Material ohne den übrigen Bahnbetrieb zu stören.
1942 und 1943 standen dort die Güterzüge, um jeweils 1000 Menschen in den Osten zu transportieren.
Eine hochbetagte Anwohnerin berichtete dazu vor einigen Jahren. . . ich habe die Juden schreien gehört.
Noch heute kann man dort die ca. 140 Meter lange Deportationsrampe am Militärgleis 69 sehen, auch wenn sie teilweise überbaut ist.
Die letzte Ausplünderung
Wenn Juden nicht schon vorher
ihre Wohnung oder ihr Haus verloren hatten,
ihre Firma arisiert,
ihre Konten gesperrt
und große Teile ihres Besitzes eingezogen worden waren,
mussten sie im Sammellager bestätigen,
dass ihr gesamtes noch verbliebenes Hab und Gut bei der Deportation,
wenn sie die Reichsgrenze – zwangsweise – überschritten,
an das Reich fiel.
Diese Ausplünderung wurde für die deutschen Juden und Jüdinnen
zentral von der Vermögensverwertungsstelle beim
Oberfinanzpräsidenten Berlin- Brandenburg gesteuert.
Mit Hilfe der Vermögenserklärung wurde nach der Deportation
der letzte Besitz
erfasst,
bewertet.
verkauft oder
eingezogen.
Man rechnet, dass den deutschen Juden und Jüdinnen Besitz
im Umfang von ca. 15 Milliarden Euro geraubt worden ist.
Quellen:
Abel, Thomas – “Die Entstehung des Gedenkortes Güterbahnhof Moabit – eine Geschichte mit Hindernissen.
Gedenkstättenrundbrief Nr. 192, Dezember 2018. Stiftung Topographie des Terrors.
Aly, Götz. Hitlers Volksstaat. Fischer. Frankfurt. 2005.
Dettmer, Klaus et al.. Forschungsgutachten zur Geschichte des Güterbahnhofs Berlin
Moabit unter schwerpunktmäßiger Berücksichtigung der Geschichte der Deportation der
Berliner Juden von den Gleisen 69, 81 und 82 , Berlin 2006.
Dinkelaker, Philipp. Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol. Berlin.2017
Friedenberger, Martin, Klaus-Dieter Gössel und Eberhard Schönknecht (Hrg.). Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus. Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Berlin 2005.
Gottwaldt, Alfred und Diana Schulle: Die “Judendeportationen” aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945. Marix-Verlag. Wiesbaden.2005.
Gottwaldt, Alfred – “Mahnort Güterbahnhof Moabit”. Hentrich&Hentrich, Berlin 2015
Jah, Akim. Die Deportation der Juden aus Berlin. be.bra-Verlag, Berlin-Brandenburg. 2013.
Knobloch, Heinz. Meine liebste Mathilde. Das Arsenal. Berlin 1986.
Schilde, Kurt. Versteckt in Tiergarten. Weidler. Berlin 1995
Schilde, Kurt. Bürokratie des Todes. Metropol. Berlin 2002
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Das Ghetto in Piaski
Piaski, das war das Ziel des 11.Osttransportes. Diesen Weg mussten über 900 Jüdinnen und Juden auf sich nehmen, als sie – nach dem aktuellen Stand der Forschung – am 28. März 1942 auf dem Güterbahnhof Moabit, einen Zug bestiegen : den sogenannten 11.Osttransport. Ihr gesamtes Hab und Gut hatte ihnen da der NS-Staat bereits geraubt. Was sie dann an ihrem Ankunftsort Piaski nahe Lublin/Polen erwartete, war den meisten von ihnen nicht bewusst.
Piaski lag damals im von den Deutschen eingerichteten Generalgouvernement, einem Art Rest-Polen. Ende der 1930er Jahre lebten in dem Ort etwa 3000 Jüdinnen und Juden. Das waren drei Viertel der ansässigen Bevölkerung. Eine Straße, die durch Piaski führte, verband die Städte Lublin und Chelm miteinander.
Die Deportierten kamen nach einem kurzen Halt in Lublin in dem Dorf Trawniki an, da Piaski selbst keinen Bahnhof hatte. Von dort aus mussten sie zu Fuß nach Piaski laufen.
Dort hatten die Deutschen Anfang 1940 zunächst ein offenes Ghetto errichtet. Als Erste wurden am Februar 1940 565 Jüdinnen und Juden aus Stettin in diesem Ghetto untergebracht. Die Not war zu dieser Zeit in Piaski so groß, dass die Jüdische Soziale Selbsthilfe (JSS) aus Krakau eine Suppenküche dort einrichtete, um die Neuankömmlinge und die ortsansässige jüdische Bevölkerung vor Ort zu unterstützen.
Im Juni 1941 wurde in Piaski ein zweites Ghetto eingerichtet. Wann genau die Deutschen das Ghetto
abriegelten, ist unklar. Schon von April bis Juni 1942, als der Holokaust-Überlebende Arnold Hindls sich dort aufhielt, wurden die Tore zwischen den beiden Ghettoteilen nur für zwei Stunden am Tag geöffnet.
Die Bewohnerinnen Piaskis waren eingesperrt. Hindls beschreibt, dass „die Ghettoteile […], jeder für sich, mit hohen Bretterzäunen und Stacheldraht eingefriedet [waren], mit großen, ständig bewachten Toren, die nur vormittags und nachmittags je eine Stunde am Tag geöffnet wurden und zur Staatsstraße hin abgeschlossen waren.“
Auf diese Bedingungen trafen die Berliner Jüdinnen und Juden bei ihrer Ankunft im Frühjahr 1942. Es gab wenig bis nichts zu essen, die Häuser waren überfüllt, und Krankheiten verbreiteten sich schnell. Die rationierte Wasserversorgung beschränkte sich in Piaski auf nur einen Brunnen. Dieser lag dazu in einem der Ghettoteile, der nur für wenige Stunden am Tag zugänglich war. Versuche, sich selbst mit Gemüseanbau zu versorgen unterband die SS mit Razzien. Auch willkürliche Gewalt war an der Tagesordnung.
Ende März 1942 begannen die Deportationen aus Piaski in das Vernichtungslager Belzec . Der Großteil der jüdischen Bevölkerung wurde zu diesem Zeitpunkt deportiert. Nur etwa 1000 Menschen blieben zurück. Ab Frühjahr 1942 kamen regelmäßig Transporte aus dem Deutschen Reich, aus dem Protektorat Böhmen-Mähren und Kalisz (Wartheland) in Piaski an, sodass bis Juni 1942 die Bevölkerung auf ungefähr 6500 Personen anstieg. Eine zweite Deportationswelle nach Belzec erfolgte im September 1942.
Die verbliebenen ca. 4000 Jüdinnen und Juden wurden über Trawniki mit der Bahn in das Todeslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Nach der Liquidation des ersten Ghettos wurde noch einmal ein Ghetto eingerichtet, das bis März 1943 bestand. Die Spuren dieser Menschen verlieren sich dann. Piaski überlebten nur rund 35, meist junge Menschen, die aus dem Ghetto oder beim Aufstand in Sobibor fliehen konnten. Von den Deportierten aus Berlin hat bis zum jetzigen Kenntnisstand keiner das Transitghetto Piaski oder die
Vernichtungslager überlebt.
Quellen:
Behrend-Rosenfeld, Else / Luckner, Gertrud (Hrsg.): Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin 1940-1943, München 1970.
„Piaski Luterskie“, in: Die Yad Vashem Enzyklopädie der Ghettos während des Holocaust. Band 2
Alfred Gottwald / Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005
Arnold Hindls: Einer kehrte zurück. Bericht eines Deportierten, Stuttgart 1965
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Helene Kallmann, geboren 09.11.1881, ermordet 1942.
Inv-Nr. 2005/192/246, Bildnummer 239291. Schenkung vom Cape Town Holocaust Centre.
Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2005/192/198, Schenkung vom Cape Town Holocaust Centre
Helene Kallmann, ledig, ohne Beruf – das war in der Deportationsliste zu lesen. . .
im Jüdischen Museum Berlin fand sich der Nachlass der Tochter von Helene Kallmann.
Ihre Tochter, Claire Kallmann, konnte mit viel Glück 1936 als Mitarbeiterin des Hilfsvereins der Juden in Deutschland zusammen mit ihrem Verlobten Willi Lampel ein Ticket für den Dampfer „Stuttgart“ nach Südafrika erhalten.
Fotograf unbekannt. Gemeinfrei
Geboren wurde sie als Helene Riess am 09.11.1881 in Berlin. Bis zu ihrer Hochzeit mit dem Kaufmann Gustav Kallmann im Alter von 21 Jahren wohnte sie bei ihren Eltern in der Skalitzer Straße 9. Die Brüder von Helene hießen Julius, Hermann, Leo und Erich. Von ihnen überlebte wissentlich nur Hermann Riess den Holocaust im Ghetto Theresienstadt.
Drei Jahre nach der Hochzeit kam im März 1906 als erstes Kind Claire Kallmann zur Welt. Später wurden noch Siegbert und Martin geboren. Die Kinder wuchsen zeitweise in Kinderheimen oder bei Pflegeeltern auf. Während oder nach dem ersten Weltkrieg verschlug es Gustav Kallmann in die USA. Weshalb ist nicht bekannt. Zur gleichen Zeit zog Helene Kallmann zu ihrer Mutter, um sie zu pflegen. Im Laufe der zwanziger Jahre folgte Sohn Siegbert seinem Vater in die USA.
In den Briefen an Vater und Bruder, an den Ehemann und Sohn, kommt zum Ausdruck, wie das Leben für Helene Kallmann und ihre Kinder zu Beginn der dreißiger Jahre immer härter wurde. Sie bekamen ab und an Geld vom Vater geschickt, manchmal auch Köstlichkeiten wie selbst gemachte Wurst, Konfekt und Schokolade. Irgendwann hatte aber auch der Vater keine Stellung mehr.
Im Laufe des Jahres 1932 sah Claire sich gezwungen, wieder bei ihrer Mutter einzuziehen, damit diese die Miete weiterhin zahlen konnte. Sie erwähnt die Beschwerlichkeiten ihrer Mutter in einem Brief aus dem März 1931: „Ich bin froh, dass der Winter zuende ist. Muttchen musste sehr unter […] Frost in den Händen [leiden]. Die Wohnung war ziemlich kalt, da wir sehr mit den Kohlen sparen mussten.“
Weitere Briefe erzählen von Entbehrungen und Hoffnungslosigkeit. Die aufstrebende NSDAP machte Claire zu schaffen: „Hier sind die Zeiten unerträglich schlecht. […]Die Nationalsozialistische Partei, das sind die Judenhasser mit dem Hakenkreuz, ist jetzt fast die größte Partei in Deutschland.“
Claire konnte verhältnismäßig lange ihre Arbeitsstelle als Stenotypistin bei einem Verlag behalten, damit aber nicht auch noch ihre Mutter versorgen.
Im August 1932 schrieb sie: „Die Sorgen fressen einen rein auf. Mit dem Essen ist es sogar sehr knapp. Ich habe schon einen Antrag auf Unterbringung Muttchens in einem Versorgungsheim bei der Jüdischen Gemeinde gestellt […].“
Fotograf LGLou. Unter CC BY-SA 4.0
Dass Claire schließlich 1936 mit ihrem Verlobten Willi Lampel nach Südafrika emigrieren konnte, rettete ihr das Leben. Sie versuchte alles, um ihrer Mutter ebenfalls die Ausreise zu ermöglichen.
Im August 1939 schrieb sie nach Berlin: „Wir hoffen, Dich nun endlich, endlich, endlich im nächsten Jahr bei uns zu haben. Lasse den Mut nicht fallen.“
Im Laufe des Jahres 1942 verlor Claire den Kontakt zu ihrer Mutter.
Da war diese bereits am 28.03.1942 über Lublin nach Piaski deportiert worden.
Erst Ende der 1940er Jahre erfuhr Claire von der Deportation der Mutter nach Piaski.
Quellen:
Jüdisches Museum Berlin Nachlass von Claire Kallmann 2005/192/1-297; R-2005/37/1-15
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Hedwig Striem geb. Meyer und Julius Striem, ermordet 1942.
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Landesarchiv Berlin, Sign.: B-Rep 025-01 277/65
Transkription:
Mein geliebtes gutes Kind.
Alles Wissenswerte hat dir Papa geschrieben daraus ersiehst du dass wir fleißig sind! Am Sonntag waren deine Vettern mit ihren Freundinnen zum Kaffeetreffen bei uns. Ich bin froh, dass du mein Geliebter gesund bist und daß es dir gut geht. Bleibe weiter gesund mein Kind, ich küsse dich in grosser Lieb.
Deine Dir sehr gute Mutti.
Julius und Hedwig Striem, Neue Grünstr. 39, Berlin SW19
An: Herbert Striem, 90 Ulfhälls Lantbruksskola,Strängnäs, Schweden
Landesarchiv Berlin, Sign.: B-Rep 025-01 277/65
Transkription:
Mein lieber Kleiner!
Nachdem wir fast 3 Wochen ohne Nachricht von Euch lieben … sind, kam vorgestern endlich Dein lieber Brief vom 21. p. Und auch vom Gerd kam gestern eine Karte vom 27.p. Wir freuten uns aus beiden Nachrichten, euer Wohl zu. . .und können Dir auch von uns nur fleißiges berichten. Wir gehen gesund und munter unserer Arbeit nach. Das heißt, daß wir seit 14 Tagen wieder zu Hause arbeiten ; aber nicht wie früher Kleider, sondern Kostümröcke. Da wir fleißig liefern müssen, bin ich noch nicht zum Briefschreiben gekommen. Auch von allen Andern kann dir mitteilen, daß alles beim Alten ist und genau wie wir gesund und munter ihrer Arbeit nachgehen. Dein Brief über Euer dortiges Leben war sehr interessant, hast du geschrieben, aber wann habt ihr denn Euren theoretischen Unterricht, du hast uns von Deiner praktischen Arbeit geschrieben. Nun für heute . . . mein lieber Kleiner, hoffentlich komme ich bald zu einem ausführlicheren Brief. Bleibe uns gesund und weiter alles alles Gute. Sei vielmals auch herzlich gegrüßt und geküsst.
. . . Liebe von Deinem Papa
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Julius und Hedwig Striem waren Anfang Fünfzig, als sie am 28. März 1942 nach Piaski verschleppt wurden. Hedwig Striem wurde 1890 als Hedwig Meyer in Pommern nahe Danzig geboren. Julius Striem war gebürtiger Dresdner, er kam 1889 auf die Welt. Im ersten Weltkrieg war er Soldat, das Paar heiratete 1918. Im Jahr 1919 wurde der Sohn Gerhard geboren, 1923 folgte Herbert. In der Entschädigungsakte für die Eltern beschreiben die Söhne die Lebensverhältnisse der Familie: „Unsere Eltern waren gut gestellt. Wir hatten zu Hause immer eine Hausangestellte, zeitweise sogar zwei, und machten jedes Jahr mit den Eltern, oder nur mit der Mutter, eine Ferienreise an die See oder dergleichen.“ Die Familie wohnte in der Neuen Grünstraße in Kreuzberg.
Mit Hilfe von Hugo Valentin, einem schwedischen Historiker, gelingt den Brüdern 1939 die Flucht nach Schweden. Herbert arbeitet zunächst als Landwirt und Holzfäller, Gerhard findet als ausgebildeter Konditor einen Job in einer Bäckerei in Uppsala. Die Eltern müssen in Berlin bleiben und schreiben noch zwei Wochen vor ihrer Deportation Briefe an ihre Kinder.
Zwei Postkarten an den Sohn Herbert wurden im Archiv gefunden. Sie sind an eine Landwirtschaftsschule in der Nähe von Stockholm adressiert. Der Inhalt zeugt von langen Arbeitstagen der Eltern. Während Julius Striem früher als Zwischenmeister bei großen Firmen arbeitete und Hedwig Striem Inhaberin eines Konfektionsunternehmens war, mussten sie nun als Bügler und als Schneiderin zwangsarbeiten.
Julius Striem schreibt am 18. März 1942 an seinen Sohn: „Wir gehen gesund und munter unserer Arbeit nach. Das heißt, daß wir seit 14 Tagen wieder zu Hause arbeiten; aber nicht wie früher Kleider, sondern Kostümröcke. Da wir fleißig liefern müssen, bin ich noch nicht zum Briefschreiben gekommen.“
Es ist davon auszugehen, dass die Eltern ihren Kindern keinen Kummer bereiten wollten und daher nicht näher auf Schwierigkeiten durch Verfolgung und Entrechtung oder gar auf die um sich greifenden Deportationen eingehen. Hedwig Striem fügt auf der Postkarte hinzu: „Am Sonntag waren deine Vettern mit ihren Freundinnen zum Kaffeetreffen bei uns.“
Eine der letzten Postkarten, die Herbert aus Berlin erreichen soll, ist auf den 25. März 1942, drei Tage vor der Deportation datiert. Die Tinte ist an manchen Stellen von Wasserflecken verwischt. Hedwig Striem schreibt an ihren Sohn: „Wir sind auch gut und arbeiten fleißig. In nächster Zeit erhältst du wieder einen Brief, worin wir dann mehr berichten können. Nun mein Liebling für heut genug. Ich küsse Dich in großer Lieb. Deine Dir gute Mutti“.
Elly Schwarz, Julius Striems ältere Schwester, wird im gleichen Transport nach Piaski deportiert. Von Julius Striems sechs Geschwistern überleben nur zwei die nationalsozialistische Verfolgung.
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Quellen:
Landesarchiv Berlin:
Rückerstattungsverfahren Julius und Max Striem.
B-Rep 025-01 277/65,
B-Rep 025-01 3200/57,
B-Rep 025-02 20395/59
Website Levande Historia:
https://www.levandehistoria.se/klassrummet/vittnesmal-medklassrumsovningar/om-herbert-striem
(zuletzt geöffnet am 9.8.2022).
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Golda Rachela Rosa Holländer geb. 01.03.1886,
Channa Holländer geb. 19.10.1887. Ermordet 1942.
Die Geschwister stammen aus Tarnów / Galizien im heutigen Polen. 1891 zieht die Familie, die Eltern und drei ältere Brüder nach Berlin-Mitte, Schützenstr. 6.
1900 stirbt die Mutter Sara, der Vater Michael heiratet ein zweites Mal , zwei Halbschwestern werden geboren. Die ältere Rosa betreibt in den 1920er Jahren ein Zigarrengeschäft, später ein Geschäft für Damenwäsche.
Channa arbeitet als Stenotypistin, später als Hausangestellte bei dem Urologen Dr. Ernst Portner in der Thomasiusstr. 1. 1939 stirbt der Vater im Jüdischen Altersheim in der Auguststr. 14-15.
1934 – 1941 wohnen die Schwestern zusammen in Moabit, in der Thomasiusstr. 11, sie bleiben beide unverheiratet. 1941 ziehen sie gezwungen in dieTile-Wardenberg-Str. 26 zur Untermiete. Channas Vermögen besteht zu diesem Zeitpunkt aus einem Nachttisch, einem Bettvorleger, einem Läufer, zwei Kochtöpfen,etwas Küchengeschirr, zwei Koffern, einem Hammer sowie einer Schreibmaschine.
Am 13. März 1942 müssen die Schwestern eine Vermögenserklärung abgeben. Kurz darauf müssen sie sich im Sammellager der ehemaligen Synagoge Levetzowstraße melden. Am 28. März 1942 werden sie mit dem 11. Osttransport vom Güterbahnhof Moabit ins Transit-Ghetto Piaski deportiert. Wenig später werden sie im Lager Trawniki südöstlich von Lublin ermordet.
Der Ort ihrer Ermordung ist nur 140 km von ihrem Geburtsort entfernt.
Quelle….ebay-Kleinanzeigen
Zu diesem Zeitpunkt wird Channas Vermögen vom Gerichtserzieher mit 14 Reichsmark bewertet und zugunsten des Reichs verkauft. Die Schreibmaschine wird für das Reich eingezogen.
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Quellen:
Landesarchiv Berlin
Rückerstattungsverfahren Golda Rachela Rosa Holländer, Channa Holländer:
B Rep. 025 – 01 ( 12 WGA 3407 / 55)
B Rep. 025 – 01 ( 12 WGA 3408 / 55)
B Rep. 025 – 01 ( 12 WGA 3411 / 55)
B Rep. 025 – 01 ( 12 WGA 2054 / 57)
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Nr. 16102
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Die Familie Thilo, ermordet 1942.
Dr. Georg Thilo und seine Frau Margot Thilo wurden am 28. März 1942 aus Moabit nach Piaski in Polen deportiert, weil sie jüdisch waren. Wahrscheinlich wurde ihre Tochter Liselotte mit ihnen zusammen verschleppt und ermordet.
Geboren wurde Georg Thilo am 16. März 1886 in Berlin als einziger Sohn von David und Doris Thilo. Er besuchte das Luisenstädtische Gymnasium zu Berlin. Anschließend studierte er in Berlin, Freiburg und Heidelberg Jura und erlangte einen Doktortitel.
Anschließend arbeitete Georg Thilo bei der Stadt Berlin. Von 1916 bis 1918 leistete er im Ersten Weltkrieg Kriegsdienst. Danach hatte er Anstellungen in verschiedenen Ämtern der Stadt Berlin. Unter anderem arbeitete er beim Arbeitsamt in Wilmersdorf und Kreuzberg, beim Finanzamt Wedding und beim Wohnungs-amt. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage verlor er trotz seines Studiums oft seine Anstellungen.
Georg Thilo wohnte nahezu sein gesamtes Leben im Haus in der Eislebener Straße 5 in Berlin Charlottenburg. Bis zu ihrem Tod 1936 lebte dort auch seine Mutter Doris Thilo, sein Vater David war bereits vor dem Ersten Weltkrieg verstorben.
Margot Thilo stammte im Gegensatz zu Georg aus einer wohlhabenden Familie und wurde am 1. September 1902 in Berlin als Tochter des erfolgreichen Textilfabrikanten Siegfried und seiner Ehefrau Babette Wasservogel geboren. Bis zu ihrer Hochzeit übernahm sie Verwaltungsarbeiten für ihren Vater. Dieser besaß auch eine Reihe von Immobilien in Berlin, die aber von den Nazis „arisiert“, also geraubt wurden. Ihr Vater starb 1942 in Berlin. Ihre Mutter Babette wurde am 13. August 1942 in das Ghetto Theresienstadt und dann am 26. September 1942 weiter in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Hier wurde sie ermordet.
Quelle: Website Bad Wildungen. Fotograf unbekannt.
Quelle: Website Bad Wildungen. Fotograf unbekannt.
1931 oder 1932 heiratete Margot Wasservogel Georg Thilo und zog zu ihm und seiner Mutter in die Eislebener Straße 5. Am 27. April 1932 wurde ihre gemeinsame Tochter Liselotte Dora geboren. Margot brachte eine beachtliche Mitgift in die Ehe: Diese sollte den beiden ab 1933 über die Runden helfen, da Georg Thilo seine Arbeit wegen der nationalsozialistischen Machtübernahme verlor.
Unter CC-BY-SA 3.0.
Am 16. Dezember 1938 wurde Georg Thilo aus dem KZ Sachsenhausen entlassen. Dort war er wahrscheinlich wie viele andere Juden nach der Reichspogromnacht inhaftiert worden. 1938 oder 1939 wollten Georg und Margot auswandern. Warum es ihnen nicht gelang, ist unbekannt. Zwischen 1939 und 1940 mussten die Thilos aufgrund der fortgeschrittenen antisemitischen Entrechtung und Verfolgung das Haus in der Eislebener Straße 5 verlassen und in die Mommsenstr. 22 ziehen. Die Spuren der Thilos verblassen nach ihrer Deportation nach Piaski. Liselotte Thilos Name dagegen findet sich auf keiner Deportationsliste nach Auschwitz oder ins Warschauer Ghetto. Nach Aussage ihres Onkel Maurice, der die Shoa in der Emigration überlebt hat, ist sie zusammen mit ihren Eltern nach Piaski deportiert worden. Aber auch auf dieser Deportationsliste befindet sich ihr Name nicht.
Die Shoa überlebten aus den Familien Thilo und Wasservogel nur Margots Geschwister Maurice und Thea und entfernte Verwandte in der Emigration.
In der Nachkriegszeit versuchten die Geschwister von Margot Thilo das von den Thilos geraubte Vermögen wiedererstattet zu bekommen, was ihnen aber vom Berliner Justizsystem verweigert wurde.
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Quellen:
Landesarchiv Berlin:
Rückerstattungsverfahren
A Rep. 092 Nr. 037998.
B Rep. 025-08, Nr.: 2471/JRSO.
B Rep. 025-08, Nr.: 6513/55.
B Rep. 025-08, Nr.: 6516/55.
B Rep. 025-08, Nr.: 6517/55.
B Rep. 036-08, Nr.: 96.
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Impressum
Recherche, Texte, Fotos:
Pia Dressler, Alina Müller, Simon Zierk ( Lehrstuhl Prof.Wildt / Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert
mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität)
Arbeitsgemeinschaft Erinnern der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule
Gleis 69 e.V.
Idee:
Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V.
Gleis 69 e.V.
Design und Redaktion:
Gleis 69 e.V.