Zum Gedenken an den Warschauer Ghettoaufstand 1943

Beginn des Warschauer Ghettoaufstand am 19. April 1943.
Zum Ghettoaufstand schrieb Czesław Miłosz dieses bekannte Gedicht,
in dem er die Zwispältigkeit, ja Zerissenheit in der damaligen polnischen
Gesellschaft zeigt.

Czesław Miłosz: Campo di Fiori

In Rom auf dem Campo di Fiori
Körbe Oliven, Zitronen,
Wein fließt über das Pflaster
Zwischen den Blumenresten.
Rosige Früchte des Meeres
Schütten die Händler auf Tische,
Bündel von dunklen Trauben
Fallen auf Pfirsichdaunen.

Auf diesem selben Markte
Verbrannte Giordano Bruno,
Das Feuer, geschürt vom Henker,
Wärmte die Neugier der Gaffer.
Und kaum war die Flamme erloschen,
Füllten sich gleich die Tavernen,
Körbe Oliven, Zitronen
Trugen die Händler auf Köpfen.
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Jahrmarkt im April 1943 vor den Mauern des Warschauer Ghetto. Fotograf Jan Lissowski. Jüdisches Historisches Institut. Gemeinfrei

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Ich dachte an Campo di Fiori
In Warschau an einem Abend
Im Frühling vor Karussellen
Bei Klängen munterer Weisen.
Der Schlager dämpfte die Salven
Hinter der Mauer des Ghettos
Und Paare flogen nach oben
Hinauf in den heiteren Himmel.

Der Wind trieb zuweilen schwarze
Drachen von brennenden Häusern,
Die Schaukelnden fingen die Flocken
Im Fluge aus ihren Gondeln.
Der Wind von den brennenden Häusern
Blies in die Kleider der Mädchen,
Die fröhliche Menge lachte
Am schönen Warschauer Sonntag.

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Blick von der ul. Wolska auf das brennende Ghetto. Aus dem Stroop-Bericht. o.A.

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Vielleicht wird hier jemand folgern,
Das Volk von Rom oder Warschau
Handele, lache und liebe
Vorbei an den Scheiterhaufen;
Ein andrer vielleicht die Kunde
Von der Vergänglichkeit dessen
Empfangen, was schon vergessen,
Bevor die Flamme erloschen.

Ich aber dachte damals
An das Alleinsein der Opfer.
Daran, dass, als Giordano
Den Scheiterhaufen bestiegen,
Er keine einzige Silbe,
Menschliche Silbe gefunden,
Von jener Menschheit, die weiter
Lebte, Abschied zu nehmen.

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Blick vom Danziger Bahnhof / Dworzec Gdanski auf das brennende Ghetto. Aus dem Stroopbericht. o.A.
Von hier aus führte das Anschlußgleich zum Umschlagplatz im Ghetto.

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Schon liefen sie, Wein zu trinken.
Seesterne zu verkaufen,
Körbe Oliven, Zitronen
Zu tragen mit lustigem Lärmen.
Und schon war er ihnen ferne,
Als wären Jahrzehnte vergangen,
Als hätten sie niemals gewartet
Auf seinen Abflug im Feuer.

Auch diese Opfer sind einsam,
Bereits von der Welt vergessen,
Für sie klingt fremd unsre Sprache,
Als käm sie vom fernen Planeten.
Bis alles dann zur Legende
Erkaltet und später, nach Jahren,
Auf neuem Campo di Fiori
Ein Dichterwort aufruft zum Aufruhr.

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Gefangen, ausgeliefert. . . Aus dem Stroop-Bericht. o.A.

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Warschau, Ostern 1943
Aus: Panorama der polnischen Literatur des. 20.
Jahrhunderts. Poesie 1: S. 636-8. Ü.: Karl Dedecius

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