Gleis 69: Staat ehrt Kämpfer für Holocaust-Gedenken – und macht ihm das Leben schwer

Gastbeitrag von Sebastian Engelbrecht vom 15. April 2021

Moderation: Heute, am 15. April, erhält Thomas Abel vom Berliner Verein „Gleis 69“ das Bundesverdienstkreuz. Er kämpft seit vielen Jahren für den Erhalt eines einzigartigen historischen Ortes in Berlin, nämlich für den Erhalt einer Rampe, eines Bahnsteigs am ehemaligen Güterbahnhof Moabit. Von dort wurden 1942 bis 44 mehr als 30.000 Juden in die Konzentrationslager des NS-Staates in Richtung Osten deportiert, weit mehr als vom bekannteren „Gleis 17“ in Grunewald. Thomas Abel wird für sein Engagement geehrt, aber das ist paradox. Denn er hat den Schutz dieses Gedenkortes mit seinen Mitstreitern in der Auseinandersetzung mit mehreren Verwaltungsebenen mühsam erkämpft. Und auch noch kurz vor der Ehrung klagt er, dass der Bezirk Mitte und der Berliner Senat die Rampe verrosten und verfallen lassen. Die Reportage von Sebastian Engelbrecht.
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Deportationsrampe am ehemaligen Gleis 69 (ehemaliger Güterbahnhof Moabit), 12.04.2021. Foto Sebastian Engelbrecht
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ATMO: STRASSENVERKEHR AN RAMPE

Brombeerhecken wuchern dort, wo einst das Gleis 69 war, neben kleinen Ahornbäumen, Efeu, totem Gestrüpp und vergilbtem Gras. Ein Werbeplakat für die Erotikmesse von 2019 mischt sich in den Wildwuchs, eine Plastiktüte zappelt in den Ästen. Die S-Bahn und der ICE rauschen durch das Gewerbegebiet, Autos rasen auf einer Schnellstraße vorbei. Erst auf den zweiten Blick ist zu sehen, dass hier einmal der Güterbahnhof Moabit war. Von keinem Ort aus in Berlin wurden so viele Juden deportiert.

Thomas Abel und sein Verein „Gleis 69“ kämpfen seit Jahren dafür, dass der historische Ort erhalten bleibt. Und Abel will nicht zusehen, wie er weiter verwahrlost.

O-TON ABEL 3: „Man konnte eben hier an diesem Eisenbahngelände, was eben ursprünglich mal für das preußische Militär gebaut worden ist, ungestört vom übrigen Bahnbetrieb die Züge beladen, ohne dass dann der übrige Güterverkehr gestört wurde.“

Die Gestapo organisierte die Deportation, vor allem in die Konzentrationslager in Theresienstadt und Auschwitz. Von der Synagoge in der Levetzowstraße, die sie zum Sammellager gemacht hatte, trieb sie die Juden über eine Strecke von zwei Kilometern durch den zentralen Stadtteil Moabit, bis diese auf dem Gelände des Güterbahnhofs nicht mehr öffentlich sichtbar waren. Von dem 270 Meter langen Bahnsteig am Gleis 69 sind 135 Meter geblieben. Das ursprüngliche Gleis ist nicht mehr zu sehen, aber die 120 Jahre alte verrostete Spundwand, die den Bahnsteig befestigte.
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Gedenkort Güterbahnhof Moabit mit Deportationsrampe (östliches Ende) und Gleis 69, 12.04.2021. Foto Sebastian Engelbrecht

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O-TON ABEL 1: „Die Spundwand, die wir jetzt hier vor uns sehen, etwas sonnenbeschienen, rostend,
verfallend, das ist die Begrenzung der Rampe zum Bahnkörper hin, zum Gleis 69. Sie wird jetzt mittlerweile auch von Ratten durchwühlt, und wir fürchten, dass es sie bald in ihrem historischen Vorhandensein nicht mehr gibt.“

Thomas Abel beschäftigt die Verwaltungen in Berlin seit acht Jahren mit dieser Deportationsrampe. Und er lässt sie nicht in Ruhe. 2016 erreichte er, dass das Landesdenkmalamt die Rampe in der ganzen Länge unter Denkmalschutz stellte. Und 2017 wurde sogar der „Gedenkort Güterbahnhof Moabit“ eingeweiht, gefördert vom Berliner Kultursenator und vom Bezirksamt Mitte. Ein zehn Meter langes Stück der Rampe zwischen Lebensmitteldiscounter und Baumarkt. Es ist abgetrennt vom längeren Teil durch den Parkplatz des Supermarkts und soll an die Deportationen erinnern, mit zwei Informationstafeln und 20 junge Kiefern.

Aber auch am offizielle Gedenkort verrottet das Denkmal selbst. Und auch hier liegt Müll herum. Irgend jemand hat die Grablichter umgeworfen, die hier eigentlich brennen sollten.

O-TON ABEL 4: „Man sieht oben Rattenlöcher zunehmend in den letzten Monaten und hier diese schon schräg stehenden und herausgebrochenen Teile, das hat sich jetzt in den letzten Jahren zunehmend mehr entwickelt.“

Die historische Substanz löst sich langsam auf. Seit zwei Jahren verhandeln das Landesdenkmalamt, der Kultursenator und das Bezirksamt Mitte über das Thema. Aber es passiert nichts.

O-TON ABEL 5: „Dieses – ich sag mal – Ping-Pong-Spiel zwischen Landesebene und Bezirksebene, das geht eigentlich schon seit 2007/2008. Das Land hat auf bezirkliche Zuständigkeit verwiesen. Der Bezirk hat auf gesamtstädtische Zuständigkeit verwiesen, und es hat also dann eben fast 30 Jahre nach der Wende gebraucht, bis dann hier 2017 wirklich ein bescheidener Gedenkort entstanden ist.“

Das Ping-Pongspiel der Behörden geht weiter – und wäre da nicht Thomas Abel, der 74jährige Kinderarzt im Ruhestand, der seine ganze Energie der Erhaltung dieses historischen Ortes widmet, wäre hier bislang wohl wenig passiert.

O-TON ABEL 2: „Wir würden uns freuen, wenn das der Bezirk und die zuständige Senatsverwaltung auch mal zur Kenntnis nehmen und sich da zu entsprechenden Maßnahmen entschließen.“

Für sein unermüdliches Engagement wird Abel vom Bundespräsidenten geehrt, mit dem Bundesverdienstkreuz. Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel übergibt ihm den Orden. Dabei hat von Dassels Bezirksamt die Entwicklung des Gedenkortes über Jahrzehnte vor allem mit behördentypischer Trägheit begleitet. Bis heute.

Dem Vorwurf der Verwahrlosung hält das Bezirksamt auf Anfrage des Deutschlandfunks entgegen, der Gedenkort werde von einer privaten Firma gereinigt. Einen Rattenbefall habe man bisher nicht festgestellt. Zum Verfall der historischen Rampe schreibt der Pressesprecher des Bezirksamts, Christian Zielke:

ZITAT ZIELKE: „Da das Flurstück, in dem sich alle aktuell sichtbaren Spundwände befinden, Eigentum der Firma Lidl ist, liegt nach dem Berliner Denkmalschutzgesetz die Instandhaltungspflicht für die Deportationsrampe bei dem privaten Grundstückseigentümer.“

Nur das Landesdenkmalamt könne dem Eigentümer Auflagen „zur Pflege des Denkmals“ erteilen, schreibt Zielke.

Während die Behörden sich gegenseitig für zuständig erklären, sorgt sich Thomas Abel um Besucher, die am ehemaligen Güterbahnhof der Deportation ihrer Vorfahren gedenken wollen.

O-TON ABEL 6: „Die meisten werden dann auch sehr still und trauen sich auch gar nicht zu fragen, weil das Ganze hier sehr laut ist durch den Verkehrslärm, zwischen diesem Lebensmitteldiscounter und dem Baumarkt eingeklemmt ist.“

ATMO: AM ZUGANG ZUM GLEIS 69 (AUTOVERKEHR, S-BAHN)

Und der Zustand der Rampe werfe bei jeder Führung, bei jeder Gedenkzeremonie die Frage nach dem Respekt vor den hier deportierten Menschen auf, schreibt Thomas Abel.

O-TON ABEL 7: „Man schämt sich – ich bin alter Berliner. Man schämt sich für die Stadt und auch für den Bezirk, dass das bis jetzt nicht anders gestaltet worden ist.“

ATMO AUSBLENDEN
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Thomas Abel an der Deportationsrampe des ehemaligen Gleises 69 (ehemaliger Güterbahnhof Moabit) , 12.04.2021. Foto Sebastian Engelbrecht

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Der Radiobeitrag wurde am 15.04.2021 um 13.05 Im Deutschlandfunk Kultur /Länderzeit und um 14.10 im Deutschlandfunk / Deutschland heute gesendet.

Wir bedanken uns herzlich bei Herrn Dr. Sebastian Engelbrecht, Landeskorrespondent des Dlf in Berlin, für das Überlassen des Manuskripts und der Fotos.
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