Lucie Adelsberger, Ärztin, Wissenschaftlerin, Chronistin von Auschwitz. Ein Buch von Benjamin Kuntz


Bei der Beschäftigung mit dem Berliner Kinderarzt Gustav Tugendreich stieß der Autor Benjamin Kuntz auf das Schicksal von Lucie Adelsberger (1895 – 1971), ebenfalls Kinderärztin. Ihre Autobiographie über Deportation und folgende Gefangenschaft im KZ Auschwitz regte Kuntz zu einer umfassenden Recherche und der jetzt vorliegenden Monographie an.

Darin verfolgt er ihr Leben von Kindheit und Schulzeit in Nürnberg an über das Medizinstudium in Erlangen – als eine der ersten Frauen im Deutschen Reich – bis zu ihrem Staatsexamen 1919. Nach einem weiteren Jahr am Cnopfschen Kinderspital in Nürnberg ist sie approbiert und promoviert. Jetzt verläßt sie die Heimat und ihre jüdische Familie, um nach Berlin, eine Großstadt im Umbruch, zu gehen.
Kuntz beschreibt ausführlich, wie Adelsberger zielstrebig zwei Facharztausbildungen parallel am Städtischen Krankenhaus Friedrichshain absolviert, in innerer Medizin und in Kinderheilkunde. Bald kann man auch wissenschaftliche Veröffentlichungen von ihr lesen und Fachvorträge auf Kongressen hören. Gleichzeitig engagiert sie sich in der Berufspolitik. 1925 gründet sie ihre Praxis für innere Medizin und Kinderheilkunde in Berlin Wedding. In dieser Zeit widmet sie sich zunehmend mehr Patienten mit allergischen Erkrankungen und forscht dazu auch am Robert Koch-Institut. 1933 erfolgt dann für sie und ihre jüdischen Kollegen nach der Machtübernahme des NS-Regimes eine scharfe Zäsur. Sie muss das RKI verlassen, verliert ihre Kassenzulassung und tritt in der Folge aus der Deutschen Gesellschft für Kinderheilkunde aus.
Kuntz kann die dazu gehörigen Unterlagen vorlegen.
1938 erhält sie ein Angebot der Universität Harvard, kehrt dann aber wieder nach Deutschland zu ihrer kranken Mutter zurück. Nach dem Tod der Mutter wird sie 1943 von der Gestapo verhaftet. Ein Befreiungsversuch aus dem Sammellager Große Hamburger Straße scheitert, und so wird sie im Mai 1943 vom Güterbahnhof Moabit aus nach Auschwitz deportiert. Sie übersteht eine Fleckfiebererkrankung und wird dort als Ärztin im Zigeunerlager eingesetzt.

Kuntz schildert hier an Hand ihres autobiographischen Berichtes eindringlich die Deportation aus Berlin, die Zeit in Auschwitz, den folgenden Todesmarsch und schließlich die Befreiung in Ravensbrück. „Auschwitz. Ein Tatsachenbericht“ beginnt sie bereits 1946 zu schreiben, erscheinen wird das Buch erst 1956 in Berlin. Später vergriffen wird es dankenswerterweise vom Freiburger Medizinhistoriker Eduard Seiler 2001 wieder neu herausgebracht. Seiler hat sich auch sonst ausführlich mit den jüdischen Kinderärzten in Deutschland befasst. So hat er nach einem Beschluss der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin 1998 in Dresden dazu 2007 ein Gedenkbuch mit dem Titel „Entrechtet / Geflohen / Ermordet“ veröffentlicht.

Lucie Adelsberger erlebte ihre Befreiung durch amerikanische Soldaten 1945 in Ravensbrück. Auf Umwegen gelangte sie nach Amsterdam und konnte schließlich im Oktober 1946 in die USA ausreisen. Seit dieser Zeit führte sie wieder einen regelmäßigen Briefwechsel mit ihrer Berliner Freundin Ursula Bohn. Diese Briefe konnte Kuntz im Evangelischen Zentralarchiv in Berlin finden und daraus ihren weiteren Lebensweg in New York nachzeichnen. Bald nach ihrer Ankunft dort erhielt sie die Möglichkeit, als Ärztin im Montefiore Hospital zu arbeiten, wie bereits vorher auch andere geflüchtete Berliner Ärzte. Nach dem amerikanisches Examen konnte sie in dieser Klinik auch wieder wissenschaftlich arbeiten, jetzt in der Krebsforschung. Bis sie schließlich selbst an Krebs erkrankte und 1971 starb.


Kuntz zeigt in seinem Buch, wie zwei Dinge Lucie Adelsbergers Leben bestimmten: Die Sorge um ihre Patienten und die Freude an wissenschaftlicher Forschung. Auf der Suche nach Zeitzeugnissen an ihren Wohn- und Praxisorten konnte Kuntz nur noch an der letzten Wohnadresse in der Bleibtreustr. 17 ein intaktes Haus finden. Dabei handelte es sich um ein sogenanntes Judenhaus, alle anderen Orte waren zerstört und nicht mehr vorhanden. Auf dem Friedhof Weißensee machte er schließlich noch das Grab ihrer Mutter ausfindig.
Hervorzuheben ist der ausführliche Anmerkungsapparat des Buches, der viel zum Verständnis des Textes beiträgt. Ebenso freut sich der Leser über Adelsbergers umfangreiche Publikationsliste, die ebenso wie das folgende Zitat am Ende des Buches als ihr Vermächtnis verstanden werden kann:

„Ein bißchen Salonantisemitismus, etwas politische und religiöse Gegnerschaft, Ablehnung des politisch Andersdenkenden, an sich ein harmloses Gemengsel, bis ein Wahnsinniger kommt und daraus Dynamit fabriziert. Man muß diese Synthese begreifen, wenn Dinge, wie sie in Auschwitz geschehen sind, in Zukunft verhütet werden sollen. Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.“

Benjamin Kuntz ist für die gut zu lesende Biographie zu danken. Er hat sie mit zahlreichen interessanten Abbildungen versehen und läßt so beim Leser ein differenziertes und vielseitiges Bild von Lucie Adelsberger entstehen.

Dr. Benjamin Kuntz ist Gesundheitswissenschaftler und arbeitet am Robert Koch-Institut. Dazu hat er sich jetzt der Medizingeschichte verschrieben. Neben der aktuellen Monographie hat er ebenfalls Biographien über Gustav Tugendreich und Georg Peritz (zusammen mit Hans Michael Strassburg) im Verlag Hentrich & Hentrich vorgelegt.
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