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Zitat aus Käthe Kollwitz Tagebücher, S. 533–34: Mitte Mai 1922:
„Hab noch zwei Wochen Zeit bis zur Reise– hab aber nichts zu tun. Ging zur Wittekind hinauf und fand sie Strümpfe stopfend neben ihrem Mittag, das auf Gas kochte. Zeigte mir ihre Arbeiten, in denen sie anfängt, zur Natur zurückzugehen.
Vielleicht gehört sie zu den wenigen Frauen, die wirklich allein für sich leben können. Ich meine nicht ohne Männer, aber so, dass sie nicht ihr Zentrum in den Männern haben. Die meisten Frauen empfangen eigentlich erst ihr Leben durch die Männer, bilden es sich wenigstens ein, treten in die Ehe und sind nun fest.
Hedwig Wittekind bringt es vielleicht fertig frei zu bleiben, Künstlerin, niemand brauchend, Bohèmienne durch Anlage. Das ist nur Mädchen möglich, die nicht sehr sinnlich sind. Diese – auch ich gehörte dazu – werden beherrscht durch ihr Geschlecht. Hätte ich nicht Karl geheiratet und wäre damit eine mich oft beengende aber im ganzen glückliche und gesunde Einkapselung meines Geschlechtstriebs vorgenommen – so hätte ich meine Ledigkeit wohl schlecht benutzt. Wenn jemand fortgesetzt voll Sinnlichkeit um mich warb, wär meine eigene gleich erregt, der Geschlechtstrieb hätte mich, schlimmer als in der Ehe, untergehabt. Die meisten Mädchen sind so unter. (..) Wittekind wird aber – selbst sie ein Kind hat – in der Hauptsache künstlerisch arbeitender Mensch bleiben. Unbekümmert um das Gerede wie sie jetzt Modell steht, würde sie leben, wie sie es möchte. Früher meinte ich, die Mädchen könnten das eine Zeit durch, nachher– wenn sie altern – bieten sie ein klägliches Bild. Auch das glaub ich nicht mehr. Dieser neue Mädchentyp ist sehr anziehend. Dass aus Mädchen bis zur heutigen Erfahrung kein Genie hervorgegangen ist, ist mir jetzt auch gleichgültig. (…) Wo gibt es denn jetzt unter den Malern ein Genie? Auch die männlichen Künstler können froh sein, achtenswerte Leistungen hervorzubringen, gute Handwerker–Künstler zu sein. Das können Frauen auch. Die Hilde Schindler–Fuchse geht noch den Weg wie ich ihn gegangen bin. Sie heiratet standesamtlich, bekommt zwei Kinder, hat Pflichten und Sorgen und Mühen und sieht wie sie daneben das Künstlerische retten kann. Vielleicht hätte sie ein Leben wie Wittekind es wählt gar nicht führen können. Ich hätte es miener Neigung nach wohl führen können, nur glaub ich eben, ich wär gescheitert durch meine kritiklose leicht erregbare Sinnlichkeit. Wittekind sagt sie braucht Menschen nicht, vielleicht ist es bei ihr wirklich wahr.“
Quellen
https://schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-046-3.htm
Elke Linda Buchholz. Persönliche Mitteilung, Rechercheunterlagen, Fotos (16.10.2020)