Am 7. Oktober 2022 war in Tachles, dem Schweizer Wochenmagazin, ein interessantes Interview zu lesen, das der Chefredaktor Yves Kugelmann mit Ariel Muzicant geführt hat.
Muzicant ist seit April 2022 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) und hat in dieser Funktion seinen russischen Vorgänger Mosche Kantor abgelöst. Kantor waren enge Beziehungen zum russichen Präsidenten Putin nachgesagt worden. Er wurde deshalb von den USA und der EU mit Sanktionen belegt und trat daraufhin von seiner Funktion im EJC zurück. Der EJC ist Dachverband von 42 nationalen jüdischen Gemeinden in Europa.
Ariel Muzicant, ist 1952 in Haifa geboren und als Kind mit der Familie nach Österreich gezogen. Nach einem Medizinstudium war er in der Immobilienbranche tätig. Daneben fungierte er als langjähriger Vorsitzender der WIener und der Österreichischen Israelitischen Kultusgemeinde. Als stellvertretender Präsident des EJC hat er in den letzten Jahren das Sicherheitsdepartement aufgebaut. In seiner neuen Funktion wird er sich vorrangig um die Finanzierung des EJC kümmern müssen. Eine nicht ganz einfache Aufgabe, da bis jetzt Kantor umfangreiche eigene Mittel dafür aufgewandt hat.
Bereits vor 15 Jahren habe Muzicant laut Kugelberg kritisiert, dass jüdische Verbände von Oligarchen geführt würden. Muzicants Antwort darauf:“ … von reichen weissen Männern geführt werden, die aber auch ihr Geld zur Verfügung stellen. Das sollte zumindest teilweise anders sein, aber da man das Geld nicht selbst drucken kann, wird man nicht ganz davon loskommen„.
Ein weiteres Problem besteht aus seiner Sicht im Erstarken des Rechtsextremismus in Folge des Ukrainekrieges und den damit verbundenen russischen Energierestriktionen. Dabei verweist er auf die Wahlergebnisse in Schweden und Italien.
Gleichzeitig „. . . war etwa 2018 der EJC ganz entscheidend an der Formulierung und Durchsetzung der Resolution des Europäischen Rates gegen den Antisemitismus und für die Stärkung der Sicherheit beteiligt. „
Auf die Frage Kugelmanns, wieweit augenblicklich jüdisches Leben in Europa möglich sei, lautet seine Antwort:“ Nicht, wenn Schechita und Brit Mila verboten sind. Der Europäische Jüdische Kongress hat nun im Rahmen einer Plattform mit dem Jüdischen Weltkongress und der orthodoxen Rabbinerkonferenz eine Resolution verfasst und der EU übermittelt, welche die Schaffung der Voraussetzungen verlangt, dass in allen Mitgliedstaaten Schechita und Brit Mila gesetzlich zulässig sein müssen.“ Dann stellt er fest:“ Der grösste Feind des Judentums ist leider die Assimilation, nicht der Antisemitismus. Wir verlieren Jahr für Jahr jüdische Menschen; in Amerika ist der Verlust noch dramatischer, aber in Europa ist er schlimm genug. „
Weitere Probleme sieht Muzicant im Verhältnis der Chabad-Bewegung zur jüdischen Einheitsgemeinde: „Die Chabad-Bewegung ist sehr problematisch in dem Moment, wo sie sich in die Politik einmischt. Damit wird sie zur Gefährdung des EJC, aber auch aller anderen demokratischen Strukturen, weil sie über sehr viel Geld verfügen, sich überall hineindrängen und auch jüdische Gemeinden in Europa zerstören.“ Denn “ . . . dort, wo es eine funktionierende jüdische Gemeinde gibt, sollte Chabad nicht hingehen, weil er dort ein Konkurrenz-unternehmen aufbaut, das die lokale jüdische Gemeinde zerstört.„
Zum innerjüdischen Kampf stellt er fest: „ … Der ist so alt wie das Judentum, und Chabad ist ja nicht das einzige Problem. Die Extremisten kommen von allen Seiten, ihre zentrifugalen Kräfte zerstören letztlich die Gemeinden und erzeugen Spaltungen. Die einzige Gemeinde, die dem widerstehen kann, ist die Einheitsgemeinde, die alle diese Kräfte – mit sehr viel Mühe und Verhandlungen – im Schtetl hält.“
Außerdem hofft er, dass Israel mehr finanzielle Mittel für die jüdische Diaspora aufwendet und sein Bevölkerungswachstum nicht auf Kosten der zwei Millionen europäischen Juden verstärkt.
Aus seinem eigenen Leben berichtet Muzicant, “ . . . (er) habe im Übrigen dreimal versucht, Alija zu machen. Es waren dann hauptsächlich familiäre Gründe, die mich zurückgehalten haben, und natürlich auch ein wenig das sehr, sehr schöne Leben hier. Ich lebe gerne in der österreichischen Kultur, ich liebe dieses Ambiente hier. Aber ich bin ein Zerrissener: Ich fühle mich hier zu Hause, aber gleichzeitig auch in Israel, das meine spirituelle Heimat ist. Sie wissen ja, was ein Zionist ist? Ein Zionist ist einer, der die anderen nach Israel schickt. (Lacht.)“.
Für die Zukunft des EJC wünscht er sich,“ . . .dass sich ein Präsident aus einem EU-Mitgliedsland findet, der die nötigen Fähigkeiten, die nötige Zeit und den nötigen Willen hat, diese Arbeit fortzusetzen und zudem genügend anerkannt ist, um das nötige Geld zu erhalten. Und anerkannt heißt hier geschätzt, respektiert und vertrauenswürdig.„
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Ein Gedanke zu „Judentum in Europa. Eine aktuelle Einschätzung.“
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