Heute , am Abend von Jom Kippur 2025, erinnerten wir wieder an das Jahr 1941. Damals wurde am
1. Oktober, der in jenem Jahr auch auf Jom Kippur fiel, aus der Synagoge in der Levetzowstraße ein Sammellager. Damit begannen hier die Deportationen, und für die Berliner Juden der erste Schritt zur Entmenschlichung.

Nach einer kurzen historischen Einführung erfuhren wir einige bedenkenswerte Überlegungen zu den Vereinen des jüdischen Berlins Anfang der dreißiger Jahre. Sie bildeten damals die ganze politische und religiöse Bandbreite des Berliner Judentums ab, von der Emanzipation bis zur Assimilation, von denen , die sich zur Diaspora bekannten und bis zu jenen die sich als Zionisten auf ihre Alija vorbereiten, von Sephardim bis zu Aschkenasim und von Orthodoxen und Neoorthodoxen bis zu Reformjuden.
Eindrucksvoll waren die zahlreichen Wohlfahrtsverbände für jedes Alter und jeden Lebensumstand, allen voran die Chewra Kadischa. Eine altehrwürdige Vereinigung, die sich um die Kranken und Sterbenden kümmert und nach dem Tod die Tahara, die rituelle Leichenwaschung, vornimmt. In Berlin gehörten ihr allein 4000 aktive Mitglieder und 2000 Förderer an. Auch über vierzig Heimatvereine gab es. Sie versammelten die zahlreichen Juden, die aus dem früheren Polen, damals dreigeteilt, nach Preußen und damit in das Deutsche Reich eingewandert waren. Da waren zahlreiche Orte aus der Posener Gegend und aus dem alten Galizien, aber auch aus dem heutigen Weißrussland vertreten.

Anschließend hörten wir nach einer Einführung zu Agi Mishol von ihr das „Gedicht für den unvollkommenen Menschen“
Mit Makeln behaftet wie er ist geliebt bedauert
wie er eben ist wütend und gespalten
hungrig durstend zürnend wollend schwebend
über dem Abgrund der Tiefe
ein Gedicht für den Menschen der ohne Streicheln hinausgeschleudert
aus nächtlichen Träumen in die Träume des Tages
sich räuspert stammelt nach seinen Schuhen tastet
so wie er ist mit knurrendem Gedärm
etwas weiterdrückt was schon bald
Exkrement wird und nachsinnt über den Hunger nach Liebe
den horrenden horrenden Hunger nach Liebe
den auch viel Kaffee nicht löschen kann
ein Gedicht für den abflauenden Flow seiner Gedanken
so wie er ist einfach so den Blick nach nirgendwo
sich nach Höherem sehnt und nach etwas
lechzt ein Gedicht für seine Wunde
die nicht blutet
für das Knäuel seiner stillen Kränkung für die Zigarette
auf die er sich jetzt stützt
als er sich an einen Tisch setzt
so als setze er sich feierlich an irgendeine Ruhe
es ist ein Gedicht an die makellosen Blätter ein Kuss
auf seine Augen die Ruhe fanden im Wolkenflaum –.

Dann konnten die Gedanken frei wandern, während zwei Vertreter der bezirklichen Musikschule ein anrührendes Musikstück auf der Trompete vortrugen. Es verfehlte seine Wirkung nicht, etliche Passanten blieben stehen, hörten bis zum Ende zu und interessierten sich dann für unser Treffen.
Den Abschluss der Veranstaltung bildete wie in den vergangenen Jahren das vertraute Gespräch bei heißem Tee und Keksen.
Einen herzlichen Dank an alle, die zum Gelingen dieses Abends beigetragen haben.
red-