Der Stille Portier – eine gute Idee

Das Bayerische Viertel wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als gehobene Wohngegend unweit des Schöneberger Rathauses errichtet. Vor der nationalsozialistischen Verfolgung lebten dort überdurchschnittlich viele jüdische Berlinerinnen, darunter auch einige bekannte Persönlichkeiten wie etwa Albert Einstein und Alfred Kerr. Heute erinnern verschiedene Interventionen im öffentlichen Raum an ehemalige Bewohnerinnen, das jüdische Leben vor Ort sowie die Geschichte von Verfolgung, Flucht und Mord. Besonders präsent sind die Tafeln „Orte des Erinnerns“, die das gesamte Viertel durchziehen. Auf diesen oft an thematisch passenden Stellen angebrachten Schildern lässt sich die schrittweise Entrechtung jüdischer Menschen im Nationalsozialismus nachvollziehen.
Vor zahlreichen Häusern liegen Stolpersteine, die an im Nationalsozialismus Verfolgte erinnern. Vor unserem Haus, der Nummer 3 am Bayerischen Platz, allerdings nicht. Auf einer Schadenskarte aus dem Jahr 1945 als „vielleicht wiederherstellbar markiert“, ist es einer der verbliebenen Altbauten am Platz.
Als wir zu im NS verfolgten ehemaligen Hausbewohnerinnen recherchierten, erfuhren wir, dass fünfzehn als jüdisch verfolgte Menschen aus unserem Haus deportiert und ermordet wurden. Weitergehende Recherchen, u.a. im Berliner sowie im Brandenburgischen Landesarchiv, ergaben allerdings, dass wohl kaum jemand der Deportierten hier ihre oder seine letzte freiwillige Wohnadresse hatte. Dies jedoch ist eine Voraussetzung für ein Gedenken im Sinne der Stolperstein-Initiative. Fast alle der betroffenen Menschen waren ältere Frauen, die nur kurz am Bayerischen Platz gewohnt haben. Vermögenserklärungen, die der Enteignung jüdischer Bürgerinnen vorausgingen, geben Auskunft darüber, dass sie hier zur Untermiete wohnten. Die meisten bei einer Frau namens Wanda Jacoby.
Als so genanntes Judenhaus, in das als jüdisch Verfolgte vor ihrer Deportation zwangseingewiesen wurden, ist uns der Bayerische Platz 3 nicht bekannt. Vielmehr war die Untermiete bei als jüdisch geltenden Menschen die einzige Wohnmöglichkeit nach der Zwangsenteignung ihrer Wohnungen.

Stiller Portier als Mahnort. dkb

Um die Namen der Verfolgten und Ermordeten dennoch zu erinnern, planten wir, den nicht genutzten Stillen Portier im Hausflur in eine Gedenkinstallation umzuwandeln. Die Hausverwaltung war jedoch dagegen, und mit ihr darüber in einen Konflikt zu gehen, schien uns zu riskant.
Entstanden ist nun ein portables Gedenkobjekt in einem anderen, ausrangierten Stillen Portier. Er beherbergt die Namen und Lebensdaten der verfolgten Bewohner*innen sowie einen kurzen Erklärtext. Er soll am Aktionstag Denkmal am Ort öffentlich gezeigt werden.

Stiller Portier als Mahnort- die Rückseite. dkb

Die Texte zu den Hausbewohnerinnen – auf der Rückseite des Stillen Portier.

Anna Blumenthal, 06.06.1868 (Seehausen, Provinz Sachsen) – 07.01.1943 (Theresienstadt). Lebte laut Todesfallanzeige aus Theresienstadt zuletzt in der Schöneberger Artilleriestraße 31. Wurde mit dem 2. großen Al­terstransport vom 19.08.1942 nach Theresienstadt deportiert (Transport I/65, Zug Da 514).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org

Margarete Glücksmann, geb. Cohn, 14.06.1867 (Ratibor, Schlesien) – 27.11.1942 (Theresienstadt). Wohnte bis zur Beschlagnahmung der Wohnung 1942 in W15 Bayerische Straße 8 III, danach bei Wanda Jacoby zur Untermiete im 2. OG links des Vorderhauses. Wurde mit dem 58. Alterstransport vom 07.09.1942 deportiert (Transport I/60).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, B Rep. 025-02 Nr. 1430/57

Laura Gotthelf, geb. Matzdorf, 13.04.1860 (München-Gladbach) – 05.02.1943 (Theresienstadt). Wurde am 14.09.1942 deportiert (Transport I/65, Zug Da 514).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, yadvashem.org

Hedwig Hoff, geb. Matzdorf (laut BLHA Rep. 092 Nr. 15974) oder Hattdorf (laut Bundesdeutschem Gedenkbuch), 16.11.1886 (Stadtoldendorf) – 02.09.1942 (Theresienstadt) und Ernst Hoff, 04.12.1876 (Breslau) – 14.07.1942 (Sachsenhausen).
Laut Sohn John H. Lowental wohnte das Ehepaar „früher“ in W15 Xantener Str. 15. Wurden am 02.09.1942 deportiert (Transport I/57).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 092 Nr. 15974

Catharine Hoffstaed, geb. Cohn, 11.06.1865 (Charlottenburg) – 07.02.1943 (Theresienstadt). Lebte laut Vermögenserklärung vom 07.08.1942 zuletzt in Wilmersdorf, Jenaer Str. 5 (Hochparterre links) bei Davidsohn. Wurde mit dem 45. Alterstransport vom 19.08.1942 deportiert (Transport I/47).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 092 Nr. 16048

Wanda Jacoby, geb. Radwauer, 12.01.1872 (Berlin) – ?Mindestens sechs der deportierten Bewohner*innen des Hauses wohnten bei Wanda Jacoby zur Untermiete. Laut Einziehungsverfügung der Gestapo vom 19.09.1942 Selbstmord begangen oder flüchtig.
Quellen: BLHA Rep- 36A Nr. 8122-827/12

Alice Kayser, geb. Mattersdorf, 10.08.1867 (Breslau) – 31.12.1942 (Theresienstadt), möglicherweise zu diesem Datum für tot erklärt. Wohnte seit 1939 bei Frieda Marcowich für RM 50,- pro Monat zur Untermiete. War als Musiklehrerin im antisemitischen Buch „Juden in der Musik“ verzeichnet, ihr Instrument mit Klavier angegeben. Sie besaß einen Bechstein-Flügel (widersprüchliche Angaben: Modell A, Fabriknummer 36950 von 1895 oder Fabriknummer 94623 ohne weitere Angaben), den sie laut Käufer und einer Zeugin vor der Deportation für RM 500,- an einen Hans Kliebhan verkaufte. Da dies vom Amt angezweifelt wurde, zahlte der Käufer zusätzlich RM 200,- ans Reich, um das Instrument behalten zu können. Wurde mit dem 1. großen Alterstransport vom 17.08.1942 deportiert (Transport I/46, Zug Da 502).Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 092, Nr. 19023, Landesarchiv Berlin

Alex Loewenthal, 03.01.1873 (Halle a.d. Saale) – 22.10.1942 (Riga laut Bundesdeutschem Gedenkbuch, Auschwitz laut yadvashem.org) und Else Loewenthal, geb. Herzberg, 03.12.1878 (Frankfurt a.d. Oder) – 22.10.1942 (Riga oder verschollen). Wohnten zunächst in Meißen, wo das Ehepaar ein Kaufhaus für Herren- und Damenkonfektion betrieb. Die Kinder ließen dort eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus anbringen. Seit August 1939 wohnten sie bei Cohn am Bayerischen Platz 3 zur Untermiete. Sie hatten zwei ausgewanderte Kinder. Wurden mit dem 21. Transport vom 19.10.1942 nach Riga deportiert.
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, Stefanie Endlich u.a. (Hg): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation. Band II. Bonn, 1999. BLHA Rep. 092 Nr. 24209

Theodor Loewenthal, 04.03.1861 (Zettlitz, Böhmen) – 22.07.1942 (Theresienstadt).
Von Beruf Metzger, vier Kinder. Wohnte von Januar bis Juni 1942 bei Wanda Jacoby zur Untermiete. Ausführliche Informationen u.a. aus Familienerinnerungen auf der Seite des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf (s. Quellen). Bekannte vorherige Wohnadressen: Wannseestraße 10, Zehlendorf; Lietzenburger Straße 32 (damals Achenbachstraße), Wilmersdorf. Dort liegt ein Stolperstein. Wurde mit dem 17. Alterstransport vom 08.07.1942 deportiert.
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, yadvashem.org, https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/stolpersteine/artikel.179911.php

Josefine Leon, geb. Marcuse, 04.01.1860 (Berliner Gedenkbuch) oder 19.12.1860 (Bundesdeutsches Gedenkbuch) (Greifenberg, Pommern) – 26.09.1942 (Treblinka) (Bundesdeutsches Gedenkbuch) oder Minsk (Berliner Gedenkbuch). Wohnte seit 01.04.1942 bei Wanda Jacoby zur Untermiete im 2. OG links des Vorderhauses. Wurde am 19.08.1942 zunächst nach Theresienstadt deportiert (Transport I/47). Wurde laut Theresienstadt-Gedenkbuch am 26.09.1942 mit dem Transport Br weiter nach Treblinka deportiert.
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 36A Nr. 21847

Emma Marcus, geb. Kronheim, 25.09.1868 (Glogau, Schlesien) – 21.09.1942 (Theresienstadt). Lebte 1931 in der Katharinenstraße 4 in Halensee. Wohnte seit Oktober 1940 bei Wanda Jacoby zur Untermiete im 2. OG links des Vorderhauses. Wurde mit dem 1. großen Alterstransport vom 17.08.1942 deportiert (Transport I/46, Zug Da 502).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, Berliner Adressbuch 1931, yadvashem.org, BLHA Rep. 092 Nr. 25257

Gertrud Ruppin, geb. Bruehl, 22.05.1867 (Berlin) – 11.08.1944 (Theresienstadt). Wohnte 1931 in W50 Neue Ansbacher Str. 12a, seit 02.02.1939 bei Wanda Jacoby zur Untermiete im 2. OG links des Vorderhauses. Ehemann Max am 20.08.1897 verstorben. Vier Kinder, darunter Margarete, die nach Zürich ausgewandert war. Wurde mit dem 1. großen Alterstransport vom 17.08.1942 deportiert (Transport I/46, Zug Da 502).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 36A Nr. 32539

Cella (Cäcilie) Schlesinger, geb. Zielinski, 13.02.1863 (Bartschin, Polen) – 05.09.1942 (Theresienstadt). Lebte 1931 wahrscheinlich in W62 Lutherstraße 48/49. Laut Vermögenserklärung von 1942 „seit ca. 12 Jahren“ wohnhaft bei Wanda Jacoby zur Untermiete im 2. OG links des Vorderhauses. Ein Kind. Wurde mit dem 1. großen Alterstransport vom 17.08.1942 deportiert (Transport I/46, Zug Da 502).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 092 Nr 33940

Alice Vandsburger, geb. Rehfeld, 18.06.1903 (Gleiwitz, Schlesien) – o.D. (Auschwitz). Beruf in der Vermögenserklärung mit Arbeiterin angegeben. Laut Vermögenserklärung vom 27.01.1943 zuletzt wohnhaft in der Wilmersdorfer Gieselerstraße 16 bei Fränkel (seit 01.02.1941). Wurde mit dem 28. Transport vom 03.02.1943 deportiert (Zug Da 15).
Quellen: Bundesdeutsches Gedenkbuch, Berliner Gedenkbuch, yadvashem.org, BLHA Rep. 092 Nr. 38581

Die Recherche für den Stillen Portier fand zwischen 2012 und 2022 statt.
dkb-

Wir fanden die Idee so gut, dass wir diesen Gastbeitrag hier gern veröffentlicht haben. Das Beispiel wird mit Sicherheit Nachahmer in der einen oder anderen Form finden.
Einen herzlichen Dank an die Autor*innen.