Wahlverhalten in den USA

Unter dem Eindruck der sich dahinqälenden Stimmenauszählung in den USA ist ein Beitrag in Haaretz vom Wochenanfang weiterhin aktuell.
David Shor wurde als Wahlanalytiker bei der Präsidentschaftswahl 2012 und nach dem Sieg Obamas hochgelobt und als „Tafelsilber“ seiner Kampagne wertgeschätzt. Bei der Wahl 2016 und dem Sieg Trumps lag er dann wie so viele mit seinen Voraussagen weit daneben. Jetzt versucht er, seine Fehler zu analysieren.

So identifiziert er im Nachherein eine Gruppe ohne Collegeabschlüsse, die als frühere demokratische Wähler zu Trump überliefen. Das sind Menschen mit einer konservativen Einstellung zu der Einwanderung aus Lateinamerika und einer liberalen zu wirtschaftlichen Entscheidungen.
Gleichzeitig beschreibt er eine kleine Gruppe von jüdischen Frauen aus den Vorstädten der Swingstaaten, die nur darauf warteten Trump, aber auch andere Republikaner abzuwählen.
Bei dem unübersichtlichen amerikanischen Wahlystem können eben auch kleine Gruppen wahlentscheidend sein. Hillary Clinton fuhr zwar 2016 in den demokratischen Stammlanden hohe Siege ein, berücksichtigte aber weniger kleine Wählergruppen in den Swingstaaten. Das war ein Grund für sie, trotz der meisten Wählerstimmen die Wahl bei den Wahlleuten zu verlieren.

Shor stellt bei den Zwischenwahlen von 2018 fest, dass Trump einen für lange Zeit anhaltenden Strukturwandel im politischen Kräfteverhältnis eingeleitet hat. Obwohl die Demokraten in einer „blauen Welle“ die Mehrheit im Repräsentantenhaus übernehmen konnten, zementierte die republikanische Mehrheit im Senat weiterhin den lähmenden Status quo.
Biden ist es inzwischen besser als Clinton gelungen, die Demokratische Partei so aufzustellen, dass eine Reihe von temporären Trump-Wählern wieder zu ihr zurückgekehrt sind. Das ist in einer Zeit der polarisierenden und unübersichtlichen sozialen Medien keine leichte Aufgabe. Die Wähler, die dort unterwegs sind, schotten sich weitgehend ab und sind nicht mehr ansprechbar.
Die Mehrzahl der Wähler aber meiden einseitige Medien. So beschreibt Shor den durchschnittlichen Wähler als 50 Jahre alt und fünf Stunden am Tag vor dem Fernseher sitzend. Er ist kaum bei Twitter unterwegs und bevorzugt stattdessen die Mainstream-Medien. Auch dort gab es bei den Wahlen von 2016 eine Reihe von Fehleinschätzungen. Trotzdem haben ABC und New York Times weiterhin einen großen Einfluss in der Öffentlichkeit.

Erstaunlich ist es, dass Ereignisse wie die Pandemie oder der Mord an George Floyd die öffentliche Wahrnehmung bestimmten, aber sich kaum in den Wahlvorhersagen abzeichneten. So erkennt Shor die seit Februar 2020 stabilen Umfragewerte als signifikant für die politische Situation in den USA. Auch gewichtigere Ereignisse haben wenig Einfluss auf das gegenwärtige Wahlverhalten.

Da Shor persönlich eine enge Beziehung zu Israel pflegt, analysiert er auch, welchen Einfluss das Verhältnis der USA zu Israel auf die amerikanische Wahllandschaft hat. In den Vorwahlen zu den Präsidentschaftswahlen konnte sich der linke Flügel mit Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez profilieren, zum Schluss machte dann aber Biden als Vertreter des gemäßigten Parteiestablishments das Rennen.
Als seinen größten Fehler bezeichnete Shor seine vermeindliche Beobachtung, dass Collegeabsolventen die Plätze von Arbeitern bei den Demokraten eingenommen hätten und dass es sich dabei um eine ungünstige Entwicklung handelte. Dabei erkennt er eine kontinuierliche Wanderung der Demokraten nach links, angefangen von Clinton, über Al Gore zu John Kerry.
Als Grund dafür und für ähnliche Entwicklungen bei anderen Linksparteien in der Welt benennt er die zunehmende Bildung der jüngeren Wählerpopulation. Diese Gruppe stellte mittlerweile eine ernstzunehmende politische Kraft dar. So setzte sie sich bei den Demokraten zunehmend für eine veränderte Haltung gegenüber Israel ein. Diese Forderung ist im Zusammenhang mit dem engen Verhältnis Netanyahus zu Trump zu betrachten und mit seiner totalen Ablehnung von Obama. Diese Ablehnung des ersten schwarzen Präsidenten und die enge Beziehung zu Trump haben bei den Demokraten deutlichen Ärger hervorgerufen. So sind neben pro-Israel Stimmen zunehmend auch pro-palestinensische und anti-zionistische Stimmen zu hören.
Ein Großteil der demokratischen Wähler scheint aber diese Einstellung nicht zu teilen. Sie unterstützen stattdessen die Zwei-Staaten-Lösung, die amerikanische Rolle als Vermittler und eine Politik des Friedens im Nahen Osten.
Auch wenn es Bestrebungen auf dem linken Flügel zur Unterstützung des BDS (Boykott-Disvestment-Sanction) gibt, erweist sich diese Position in der amerikanischen Öffentlichkeit eher als vergiftend . Shor empfiehlt deshalb die altbewährte Haltung gegenüber Israel beizubehalten. Bei den Demokraten gäbe es nur wenig Neigung, diese Politik aufzugeben.

Während jüdische Wähler früher durchweg Linksparteien ihre Stimme gaben, beobachte er jetzt in mehreren Ländern Europas eine zunehmend konservative Einstellung bei ihnen. In den USA und Kanada gäbe es aber keine vergleichbare Entwicklung. Dort gingen immer noch 70 bis 80 Prozent der jüdischen Wählerstimmen an die Demokraten.
Als Grund dafür schätzt Shor unter anderem die Vorsicht ein, die die Linke in den USA bei Kritik an Israel beobachtet. Die Demokraten bemühten sich sehr darum, die Juden weiter als Wähler an sich zu binden.


Sieht man sich die Verteilung der demokratischen Wähler bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen auf die Ost- und die Westküste an, erscheint diese Einschätzung plausibel.
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