RSHA-Verfahren digitalisiert

Topographie des Terrors, Blick von Osten. TAL

Heute lud die Stiftung Topographie des Terrors zu einem bemerkenswerten Workshop ein. Er befasste sich mit der Digitalisierung und geschichtswissenschaftlichen Auswertung der RSHA-Verfahren. Das waren Gerichtsverfahren zu NS-Verbrechen in den 60iger Jahren, die in Berlin stattgefunden hatten.

Sie begannen mit insgesamt 35 Ermittlungsverfahren gegen 146 Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes und endeten überwiegend mit Einstellungen aus den verschiedensten Gründen. Entscheidend dabei war die am 1. Oktober 1968 in Kraft getretene Änderung des § 50, Abs. 2 StGB (heute § 28). Demzufolge verjährten Beihilfehandlungen an NS-Mordverbrechen, sofern nicht den Tätern niedrige Beweggründe oder grausame und heimtückische Tatausführung nachzuweisen waren (s.a. EGOWiG). Die Novellierung wird rückblickend allgemein als bewusste Manipulation der Rechtspflege betrachtet. –

Reichssicherheitshauptamt in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8. Bundesarchiv. 183-R97512 / Autor unbekannt. Unter CC-BY-SA. 3.0

1995 ging der dazu gehörige Aktenkomplex in die Obhut des Berliner Landesarchiv über. Nach ersten Arbeiten zur Systematisierung der ungeordneten Unterlagen fand jetzt ihre Digitalisierung und geschichtswissenschaftlichen Auswertung statt. Das ermöglichten Prof. Michael Wildt vom Institut der Geschichtswissenschaften / Humboldt Universität und Prof. Uwe Schaper vom Landesarchiv Berlin in einer pragmatischen und erfolgreichen Kooperation. Malte Beeker bearbeitete im Rahmen seiner Dissertation den historischen Teil. Die Digitalisierung nahm ein externer Dienstleiter vor.

Von li nach re: Prof. Schaper, Landesarchiv Berlin. Frau Dr. Sprau, Bundesarchiv. Dr. Herrmann, Bundesarchiv. Prof. Stumpf, LWL-Archivamt für Westfalen. TAL

Prof. Schaper beschrieb den Rahmen dieses Projektes, bei dem insgesamt drei Millionen Seiten zu bearbeiten waren. Dabei waren eine Reihe von grundlegenden Vorgaben zu beachten, wie den Datenschutz in seiner aktuellen Form, schutzwürdige Belange der Betroffenen, Schutzfristen, aber auch Rechte der betroffenen Gutachter. Gleichzeitig sollte das Material unter den Bedingungen des Open Access allgemeinen Zugang und durch Normdatenerschließung und Verknüpfung die Nutzung gemeinsam mit anderen Datenbanken ermöglichen. Die Digitalisate werden in die Deutsche Digitale Bibliothek aufgenommen.
In den weiteren Referaten wurden als Ziel des Bundesarchiv genannt, alle vorhandenen Unterlagen der NS-Zeit in den nächsten vier Jahren zu digitalisieren. Seit 2010 nimmt das Bundesarchiv insgesamt die Digitalisierung seiner Bestände in Angriff. Die Arbeit teilt es sich mit externen Anbietern. Dabei stehen große Komplexe wie Erster Weltkrieg und NS-Zeit an vorderer Stelle. Daneben wird an einem Archivportal gearbeitet, das mit Landesarchiven und Bundesarchiv abgestimmt Unterlagen wie Wiedergutmachungsakten und Rückerstattungsanträge aus dem Bereich des Bundesfinanzministerium zusammenführt. Gleichzeitig wird die Suche nach Attributen und Personen möglich, wobei auch auf Datensätze von Yad Vashem und Arolsen zurückgegriffen wird. Der Einsatz von KI wird neue Formen der Erschließung , einen besseren Zugriff und damit auch eine erfolgreichere Nutzung erlauben.
Mit dieser vollkommenen Umstellung der Technik – der frühere Goldstandard der Mikroverfilmung ist aufgegeben worden – ändert sich auch die Selbstwahrnehmung der Archive. Hüteten sie früher die Archivalien, so sorgen sie heute für den öffentlichen Zugriff auf ihre Sammlungen. Dafür sind sie aber auch für die sichere und rechtssichere Speicherung ihrer Archive verantwortlich, die sie durch eine vierfach redundante Speicherung erreichen. Damit nehmen die Server-Einheiten in öffentlicher Hand rasant zu. Schließlich müssen die Daten in mehrjährigen Terms regelmäßig mit der aktuellen Technik gesichert werden, eine Generationsaufgabe, die exponentiell an Umfang zunehmen wird.

Von li nach re: Malte Beeker, Humboldt Universität. Prof. Laak, Universität Leipzig. Frau Dr. Riedle, Topographie des Terrors.
Prof. Klein, Touro University. Prof. Wildt, Humboldt Universität.

Anschließend gab Malte Beker einen Überblick, über die wissenschaftliche Erschließung des RSHA-Materials. Er hat es nach dem Ablauf der Gerichtsverfahren in sechs Bereiche gegliedert.

In den Beginn des Verfahrens und die Kontroversen über Ort, Verantwortlichkeiten und Inhalte.

Vorermittlungen und Einleitung der Verfahren

Die Rolle der RSHA-AG , der Aufschub der Verjährung 1964/65

Das EGOWiG und das RSHA-Verfahren.

RSHA-„Endlösungs“Verfahren.

Abschlussbetrachtungen

Der entscheidende Anstoß für die Verfahren stammt von Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt. Daran an schloss sich der Widerstand der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die um ihre eigene Stellung fürchtete. Die dann gebildete RSHA-AG systematisierte die kommenden Ermittlungen. Dabei sah sie sich mit Defiziten in der Datenerfassung und unzureichender Kooperation beteiligter Institutionen konfrontiert. In der Folge tauchten unbekannte Dokumentenbestände auf und es drohte für verschiedene Komplexe, Verjährung einzutreten. Das EGOWiG entwickelte seine Wirksamkeit für die weiteren Verfahren, wobei auf Grund der herrschenden Rechtsauffassung bereits eine erhebliche Zahl von Verfahren vorher eingestellt worden waren. So wurden die Verfahren gegen die Hauptbeschuldigten Werner Best, Bruno Streckenbach, Ernst Bernsdorff, Franz Königshaus und Otto Bovensiepen wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Insgesamt wurden die Distanztäter in ihrer strafrechtlichen Verantwortung nicht angemessen beurteilt. Der Ermessensspielraum für mildernde Umstände wurde vom Gericht sehr großzügig genutzt. Die Einstufung der Täter als ein Kollektiv verantwortlich Handelnder hatte sich damals noch nicht durchgesetzt.
In der folgenden Podiumsdiskussion wurde deutlich, dass die Staatsanwälte in den 60iger Jahren nur auf eine begrenzte wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema zurückgreifen konnten. Nur beim Düsseldorfer Judenreferat ermöglichte die Aktenlage einen Einblick in die internen Abläufe dieser Dienststelle. Erst später wurde deutlich, dass die Arbeit im RSHA nicht der einer herkömmlichen Behörde entsprach. Gesetzliche Vorgaben wurden großzügig ausgelegt oder überschritten und die Initiative der Mitarbeiter kaum eingeengt. Die Handlungsabläufe und Verantwortlichkeiten bildete das Organigramm nur sehr bedingt ab. Damit ermöglichte die an festen Strukturen ausgerichtete Betrachtungsweise den Staatsanwälten keinen realistischen Zugang zum Handlungsgeschehen. Die Angeklagten versteckten sich in zum Teil kafkaesken Handlungsketten und boten als vermeintliche „Schreibtischtäter“ ein schillerndes Bild. Ihr früheres Leben und ihr sonstiges Umfeld wurden selten in die Beurteilung der Täterpersönlichkeit mit einbezogen. Für die Tatorte bestand ebenfalls kaum Interesse. Eine Änderung bei den staatsanwaltlichen Untersuchungen und den entsprechenden Gewichtungen durch die Gerichte trat erst nach der veränderten Rechtsprechung des BGH ein.

Frau Prof. Weinke, Universität Jena. Dr. Eichmüller, NS-Dokumentationszentrum München. Dr. Keller, IfZ – Dokumentation Obersalzberg. Frau Dr. Rauschenberger, Fritz Bauer Institut. Frau Dr. Bohra, Topographie des Terrors.

Zum Schluss fasste Frau Prof. Annette Weinke von der Universität Jena den Forschungsstand zur Strafverfolgung von NS-Massenverbrechen zusammen. Sie begann mit der Gründung der United Nations War Crimes Commission (UNWCC), die noch vor Kriegsende entsprechend der Haager und Genfer Vorgaben deutsche Angeklagte benannte. Die UNWCC strebte eine Verrechtlichung ihrer Arbeit an, um Revanchevorhaben und eine Politisierung im beginnenden Kalten Krieg zu vermeiden.

Bild gesehen im Vortrag von Prof. Weinke.

Dennoch gründete die UdSSR eine eigene Kommission zur Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen, ihr schloss sich eine Anzahl osteuropäischer Staaten an. Jüdische Vertreter wurden nicht in die UNWCC aufgenommen. In Deutschland setzte die Verfolgung von NS-Verbrechen erst spät ein, dann vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen und dem sich verändernden Verhältnis zu Israel. In der Öffentlichkeit wurde die Arbeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und der Frankfurter Auschwitzprozess nur wenig wahrgenommen. Auch wenn eine Reihe von Verfahren zu NS-Verbrechen nur halbherzig geführt wurden und sich ein Bewusstsein für die Ermordung der Juden erst allmählich einstellte, waren die Prozesse gesellschaftlich relevant. Allmählich verschob sich die Beurteilung der Prozesse von einer juristischen zu einer gesellschaftlichen Betrachtung. In der neuen Bundesrepublik eröffneten sich mit zunehmendem Interesse am Holokaust bald neue Forschungsperspektiven. Sie stellten u.a. die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung von Rechtsprechung, Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig nahm der internationale Informationsaustausch zu diesem Thema zu, und die Bundesrepublik engagierte sich im Völkerstrafrecht und in der Strafrechtsforschung. In dem Zusammenhang erinnerte Frau Weinke an den Richter am BGH Dr. Werner Sarstedt, der als Protagonist der kalten Amnestie betrachtet wird.

Bild gesehen im Vortrag von Prof. Weinke.

Auf dem Podium wurde noch einmal das geringe Interesse in der Öffentlichkeit an den NS-Verfahren hervorgehoben. Dabei ist es mühevoll, ein emotional belastetes Thema rational und kontinuierlich abzuarbeiten. Mediales Interesse besteht überwiegend ein einzelnen leicht vermittelbaren Ereignissen.
Mittlerweile ergeben sich bereits neue Forschungsansätze über die Forschung zur Rechtsprechung in den NS-Verfahren. Der neueren Geschichtsschreibung werden also die Themen nicht ausgehen.
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