Manche Dinge benötigen etwas länger. Aber hier kommt der Gastbeitrag zur großen Demonstration am Mahnort der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße.
Am frühen Abend des 9. November 2023 versammelten sich mindestens 700 Menschen im Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht am Mahnmal in der Moabiter Levetzowstraße. Aufgerufen hatte wie jedes Jahr der Berliner Ableger der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten und Antifaschistinnen (VVN-BDA). „Die Reichspogromnacht stellte den Übergang von der Diskriminierungs- zur Vernichtungspolitik dar“, heißt es im Aufruf zur Bedeutung des 9. November. Antifaschistisches Gedenken heiße, „die Widersprüche der deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ernst zu nehmen, jede Form des deutschen ‚Wirs‘ anzugreifen und das Fortwähren des Antisemitismus aufzuzeigen und zu bekämpfen – erst recht in Zeiten einer sich erneut verschärfenden deutschen und europäischen Politik gegen Geflüchtete, wieder aufkeimenden rassistischen Mobilisierungen und extrem rechten Wahlerfolgen“.
So grenzte man sich auch in Redebeiträgen vom offiziellen staatstragenden Gedenken ab, bei dem „morgens ein paar Kränze abgeworfen“ würden und man dann die Deutsche Einheit feiere. Der 9. November sei ferner kein „Schicksalstag“ der Deutschen, da Antisemitismus eben kein Schicksal sei.
Die dieses Jahr offenbar stärker besuchte Kundgebung stand klar unter dem Eindruck des beispiellosen Terrorangriffs der Hamas auf Israel vom 7. Oktober. Bereits zu Beginn wurden die Teilnehmenden aufgerufen, besonnen auf eventuelle israelfeindliche Provokationen zu reagieren. Der vor den Massakern verfasste Aufruf wurde ergänzt um die aktuelle Situation in Israel und die sich rapide verschärfende Bedrohungslage jüdischer Menschen, in Berlin und weltweit. Man könne keine Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht abhalten, ohne den größten Angriff auf jüdisches Leben seit der Shoa zu thematisieren. „Unsere Solidarität gilt allen Jüd*innen und dem jüdischen Staat Israel. Unsere Gedanken sind heute auch bei den Familien und Freund*innen der Ermordeten und bei den Verschleppten. Wir blicken voller Sorge auf die Situation vor Ort, das Leid aller Zivilist*innen und alles, was dieser Krieg in den kommenden Wochen noch nach sich ziehen wird.“
Das Programm der dezidiert als links erkennbaren Kundgebung umfasste ferner Rede- und Musikbeiträge; Chorgesang und Klezmer-Klänge ertönten von der dezent erleuchteten Bühne.
Eva Nickel, Nachfahrin einer Shoa-Überlebenden und Sozialarbeiterin bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, hob Beispiele jüdischen Widerstands während des Nationalsozialismus hervor und unterstrich die Bedeutung Israels als Zufluchtsort. Ihre besondere Hochachtung gelte palästinensisch-israelischen Gruppen, insbesondere Müttergruppen, die sich für Frieden einsetzten. Sie wünsche sich in der aktuellen Situation größere Solidaritätsdemos in Deutschland, äußerte aber auch ihr Unverständnis gegenüber Kritik, die israelische Armee kämpfe zu hart in Gaza.
Der Zeitzeuge und Shoa-Überlebende Kurt Hillmann hatte kurzfristig absagen müssen, sodass dessen Beitrag verlesen wurde. Dieser thematisierte die mangelnde Entnazifizierung nach der Niederlage Nazideutschlands ebenso wie aktuelle Versäumnisse im Kampf gegen Rechts: „Wir tun nicht genug. Ich habe den Eindruck, die Zeit läuft rückwärts.“
Im Vorfeld des Gedenktages waren Mobilisierungsplakate abgerissen und der sie Anbringende bedroht worden. Die Plakate waren mit Primo Levis berühmtem Zitat überschrieben: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“
Nach etwa zwei Stunden setzte sich die Menge als Demonstrationszug zum Deportationsdenkmal auf der Pulitzbrücke in Bewegung.
Kai Brokopf