Philosophisch-literarischer Diskurs in St Matthäus

St. Matthäus, Berlin. Fotograf Berthold Werner. unter CC BY-SA 3.0

Gestern Abend gab es die Gelegenheit, Navid Kermani und Almut Shulamit Bruckstein bei einem geisteswissenschaftlichen Dialog in St. Matthäus zu begleiten. Als roter Faden diente die Einführung von Kermanis schon vor Längerem erschienenem Buch „Zwischen Koran und Kafka“. Eine große Zuhörerschaft verfolgte konzentriert das Gespräch der beiden, die sich auch freundschaftlich verbunden sind. Nicht ganz glücklich unterbrochen wurde der Dialog gelegentlich von Christoph Markschies, der zum Moderator bestellt war.

Gespräch in St. Matthäus. Almut Shulamit Bruckstein, Navid Kermani, Christoph Markschies. TAL

Bruckstein verwies am Anfang daraufhin, dass ihr Gespräch in Tradition von Madrasa und Bet Midrasch geführt würde, den religiösen Lehrhäusern des Islam und des Judentums. Kermani beschrieb, wie ihn die jüdischen Kosmopoliten des 19.Jahrhunderts, Lessing und Heine, geprägt hätten, deren Platz im 20. Jahrhundert leer geblieben sei. Als ihr Nachfolger in der Rolle der sozialen Propheten wird Kermani gelegentlich gesehen. Er habe den geistigen Abbruch nach 1933 als tiefen Verlust empfunden. Das in großen Teilen vom Judentum geprägte deutsche Geistesleben sei durch die Vertreibung jüdischer Wissenschaftler und Künstler bleibend beschädigt worden. Mit dem Aufkommen des Zionismus seien die Grundsätze der aufgeklärten rabbinischen Lehre, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, zugunsten partikularistischer Ziele und Denkens in nationalen Paradigmen in den Hintergrund getreten. Dabei erinnerte Kermani an das Wirken der beiden Gelehrten des 12. Jahrhunderts, Ibn Rushd und Maimonides. Sie führten ihre Diskussionen auf arabisch. Mit dem Blick auf das 21. Jahrhundert stellten beide, Bruckstein und Kermani, fest, dass sich die jüdische Diaspora, insbesondere in den USA, zunehmend mehr von Israel mit seiner jetzigen politisch-gesellschaftlichen Entwicklung entferne.
Kermani beschrieb dann, wie ihn die deutsche Literatur und die Frankfurter Schule in seiner Entwicklung zum deutschsprachigen Schriftsteller und Philosophen bestimmt habe, und wies dabei auf die Weltbürger Thomas Mann und Walter Benjamin hin. Gleichzeitig habe er in seiner persischen Familie selbstverständliche Religiosität und kosmopolitisches Denken erlebt. Eingedenk, dass „die Wege zu Gott so zahlreich wie die Atemzüge des Menschen“ seien. Seine Umgebung habe ihn so geprägt, dass er sich Jesus als Deutschen vorgestellt habe. Auch deutsches Denken mit seinem Hang zur Transzendenz, mit seinem heiligen Ernst und dem Hadern mit sich selbst seien ihm nahe gewesen. Der Blick der deutschen Dichter „nach oben“ endete aber 1933. Bruckstein verwies in dem Zusammenhang auf Adornos Minima Moralia. Nach 1945 stand dagegen für die Literatur die soziale Existenz des Einzelnen im Vordergrund.

Gespräch in St. Matthäus. Almut Shulamit Bruckstein, Navid Kermani. TAL

Dann ging Kermani auf Heines Entwicklung vom Kosmopoliten und Konvertiten zum alten, kranken Juden ein. Damit war Heine in sein Judentum zurückgekehrt. Er weint und nachvollzieht alle Kränkungen, die Juden in der Vergangenheit erlitten haben, er erlebt, wie die Juden sich von Gott verlassen wähnen und trotzdem an ihm weiter hängen. Als Beispiel für die Entwürdigungen der Juden nennt Kermani das Rennen, zu dem Juden am letzten Tag des Römischen Karnevals fast nackt zur Belustigung von Senat und Volk gezwungen worden waren. Und das über zwei Jahrhunderte am Beginn der Neuzeit. So geht Heine in seine späten Schriften zunehmend auf die Unterdrückten und Besiegten ein und gibt Zeugnis für die Verfolgten.
Danach schlägt Kermani einen Bogen zu Kafka, der sich selbst als fremd in seinem Leben und mit seinem Werk gesehen hat. Das entsprach auch der Sicht der Außenstehenden. Seinem Aussehen nach ließ er sich als Orientalen oder Indianer einordnen. Aber Fremdheit, so Kermani, sei auch positiv besetzt. Sich fremd Machen schärfe die Wahrnehmung. Gleichzeitig sei Kafka auch als Fremder und Randständiger ein wichtiger Teilhaber an der deutschen Literatur und darüber hinaus an der europäischen Kultur gewesen.
In einer weiteren Überlegung stellte er fest, dass im Verlauf des letzten Jahrhunderts die arabische Welt ihre Juden verloren habe und parallel dazu Israel seine arabischen Wurzeln. Schließlich sei Bagdad noch bis ins 20. Jahrhundert Zentrum der jüdischen Diaspora gewesen, wobei talmudisches Denken nie ortsgebunden gewesen sei.
Kermani stellt für sich selbst fest, dass der Koran ihn dazu befähigt habe, sein Anders Sein und auch sein Exil wahrzunehmen. Er habe ihm ebenfalls die Treue zum Kanon seiner Eltern ermöglicht. Erst habe er sich mit der Literatur befasst, sei darüber zum Koran gelangt und zum Islam – und weiter schließlich zu den anderen Religionen.
Ein sehr anregender Abend, der sicher den einen oder anderen zu Kermanis Büchern greifen lässt.
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