Das Ringen um die jüdisch-polnische Geschichte

Gedenktafel am Haus Planty Nr.7 in Kielcy
Halibutt, Ely1 (The new version) – Eigenes Werk. Unter CC BY-SA 3.0

Die Diskussion über die Rolle der christlich-polnischen Bevölkerung bei der Verfolgung der polnischen Juden reißt nicht ab. So veröffentlichte Gazeta Wyborcza am 27. Februar ein Interview von Dorota Wodecka mit dem Literaturhistoriker Tomasz Żukowski. In seinem Buch Retusche beschreibt er, wie Polen sich vor der Tatsache versteckt, selbst auch Verantwortung für die Ermordung von Juden zu tragen. Und in dem Buch Unter Druck zeigt er, welche Konsequenzen es hat, wenn Zeugen dieses Geschehens sich in Schweigen zurückziehen. Er selbst habe seit der Geburt seiner Tochter keine Kraft mehr, über den Holokaust zu schreiben. Er bekäme dabei Magenschmerzen und wolle gern jetzt etwas anderes in seinem Leben anfangen.
Auf den Hinweis, dass sein letztes Buch Unter Druck sehr genau von den Anwälten der Liga zu Bekämpfung des Anti-Polonismus (Reduta Dobrego Imienia) gelesen wird, stellt er fest, dass das keine Gefahr für die Geschichtswissenschaft darstelle sondern eher den Umgang mit dem Holokaust charakterisiere, und verweist auf das bekannte Gedicht von Czeslaw Milosz Ein armer Christ schaut sich das Ghetto an. Dort beschreibt Milosz die tiefsitzende Angst vor der Aufdeckung der Verbrechen, die Christen an Juden vollbracht haben. Diese Angst betrifft den Einzelnen und das Kollektiv. Als Reaktion erfolgt regelmäßig der Schrei, dass dieser Vorwurf eine Verleumdung durch Juden oder Historiker darstelle. Der Vorwurf der ungerechtfertigten Diffamierung hat eine fast hundertjährige Tradition. Stattdessen sieht sich die unschuldige polnische Nation in der eigentlichen Opferrolle. In diesem Sinne interpretierte auch die Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny das Pogrom 1946 in Kielce. In derselben Tradition steht auch das polnische Gesetz, dass seit 2018 jeden mit hohen Strafen bedroht, der die polnische Nation oder den polnische Staat für die vom Dritten Reich begangenen NS-Verbrechen mitverantwortlich macht. Der polnische Staat maßt sich so an, die Geschichte abschließend zu definieren. Dazu braucht es aber eigentlich keine Justiz, gesellschaftlicher Druck reicht aus, wie Tadeusz Słobodzianek in seinem Film Our Class schlüssig zeigt. . . . Rachelka, nach dem Holokaust eine jüdische Waise, bekommt zu ihrer Hochzeit von den polnischen Nachbarn Hochzeitsgeschenke, gestohlen aus den Haushalten ermordeter Juden. Und sie darf das Verbechen nicht ansprechen oder gar anklagen. . . . .
Und das ist keine künstlerische Fiktion. Żukowsk erinnert an das Jahr 1968, in dem die letzte große Vertreibung polnischer Juden stattfand. Damals erschienen Veröffentlichungen, die von der Rettung der Juden durch christliche Polen handelten, so Der Wald der Gerechten von Szymon Datner, Spiel für mein Leben von Hanna Krall und ein Artikel, den der Direktors des Jüdischen Historischen Museums in Polityka veröffentlichte. Damit wurde den Bedürfnissen des polnischen Lesers nach Verdrängung Rechnung getragen. Władysław Bartoszewski hat Kralls Text in Ten jest z ojczyzny moje aufgenommen, eine fast kanonische Quellensammlung. Dort ist er auch 2013 noch unkommentiert zu finden. Der öffentliche Druck, ob gesellschaftlich oder politisch, zu verdrängen und zu verschweigen, ist weiterhin schmerzhaft spürbar – für Juden und Polen, und er hält die historische Lüge am Leben.
Im Gegensatz dazu stehen Geschichten, wie Stanisław Żemiński sie aus Łuków berichtet. Dort hatte sich damals die Bürgerwehr dazu hergegeben, eine Treibjagd auf Juden zu veranstalten. Oder der Film The Beater, den 1963 Ewa und Czesław Petelscy drehten. Er schilderte eine tragische Verwicklung von Gewalt, Missverständnissen, Unvermögern und nicht zuordenbarer Schuld, bei der zum Schluß alle beteiligten Juden tot sind.
Calek Perechodnik schrieb eindeutig über die Haltung von christlichen Polen, die glaubten, in den Zeiten von Gewalt und Gesetzeslosigkeit ebenfalls gegen alle Menschenrechte verstoßen zu dürfen und zum Schluß ungestraft auf den Hauptschuldigen, die deutsche Besatzungsmacht, verweisen zu können.
Damit sehen sich die polnischen Juden, wenn sie denn heute über polnische Gewalt sprechen wollen, in die Rolle von undankbaren Verleumdern Polens verwiesen.
Wie sehr polnische Juden in dieser Rolle gefangen sind, beschrieb Laura Kaufmann, eine Jüdin aus Kielce, in einem kürzlich veröffentlichten Brief. Sie erkennt den großen Schaden, den die Juden durch das Pogrom in Kielce und die Polen unter der deutschen Besatzung erlitten haben, ohne das es den einen Schuldigen dafür gibt. Sie beschreibt das in dem Bild, dass dereinst die Gerechten, die polnischen Retter der Juden erscheinen . . . . und die Juden werden sich bedanken und gleichzeitig für unbegründete Vorwürfe durch andere Juden entschuldigen müssen. . . Aus diesem Teufelskreis des Bedankens und Entschuldigens gibt es für sie kein Entrinnen.
Aber um der Wahrheit gerecht zu werden, muß man anerkennen, dass es nur wenige Gerechte gab, und die handelten als einzelne, nur sich selbst Verpflichtete – und nicht als
Vertreter des ganzen Polen. Auch wenn Gedenkplaketten mit ihren Namen an den Wänden von Plódź, Kielce und Toruń etwas anderes ausdrücken sollten.
Das bringt auch Franek Kalina in ihrem Buch Pokłosie zum Ausdruck.
Im Gegensatz zu ihr zeigt Błoński Verständnis für die abwartende und distanzierende Haltung des Klerus gegenüber den Verbrechen der polnischen Christen an den Juden. Er verhält sich ähnlich und schreibt 1980 einen bekannten Artikel Arme Polen schauen sich das Ghetto an. Darin bescheinigt er den Polen Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen an den Juden . . . über das Gott seine Hand gehalten habe. . . . .
Die Entschuldigung, dass Informationen zum Mord an den Juden fehlten, läßt Żukowski nicht gelten, schließlich konnte man darüber in Nałkowskas Medaillon und Andrzejewskis Karwoche nachlesen. Stattdessen hielt man sich an Błońskis Text und verschloss damit die Augen vor der Wahrheit.
Jan Borowicz sagt als Psychonalytiker in seinem Buch Perversive Memory, dass man Gewalt nicht gleichgültig zusehen kann. Stattdessen erlebt der Zuschauer heftige und gegensätzliche Gefühle, wie Faszination für Kriminelles, Eifersucht auf die Priorität des Leidens und das Gefühl der Schande. Und diese Emotionen tauchen immer wieder auf.

Abschließend stellt Żukowski fest, dass auch nach 1989 das Thema der Schuld gegenüber den Juden nicht angesprochen wurde. Auf den Beitrag von Jan Gross Er ist aus meiner Heimat … aber ich mag ihn nicht gab es keine angemessene Antwort. Weder von Jan Józef Lipski, Jacek Kuroń noch von Władysław Bartoszewski. Die entsprechenden Texte aus den 1940er und 1950er Jahren wurden nicht gelesen oder als ideologisch abqualifiziert.
Z. sieht sich nicht in der Lage, ein geschichtliches Urteil über das Verhalten der unterschiedlich Beteiligten abzugeben. Alle kennen die Ausgangslage, in der ein Teil der polnischen Gesellschaft sich feindlich und ablehnend gegenüber den Juden verhalten hat, während der andere sich korrekt oder gleichgültig benahm. Wie auch in anderen Gesellschaften.
Aller Aufgabe muß es jetzt sein, keine rückwärts gerichteten Betrachtungen anzustellen sondern die Themen zu benennen, die zu diesem Zeitpunkt diskutiert werden müssen. Zum Beispiel den Antisemitismus der Eliten. Es ist auch fraglich, ob das in Gazeta Wyborcza stattfinden wird.
Żukowski stellt mit Bedauern fest, dass die polnische Kultur ihre Identität nicht aus der kritischen Betrachtung ihrer Vergangenheit ableitet. Stattdessen reagiert sie abwehrend, wenn anerkannte Autoritäten oder Institutionen der Vergangenheit in Kritik geraten und in Frage gestellt werden. Seiner Ansicht nach muß Geschichte genau analysiert werden, um daraus für die Bewältigung der heutigen Welt zu lernen.

Dr. Tomasz Żukowski
https://pl.wikipedia.org/wiki/Tomasz_%C5%BBukowski

Dr. Tomasz Żukowski ist Literaturhistoriker und arbeitet am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er beschäftigt sich mit den Problemen des öffentlichen Diskurses in Polen, den Funktionen jüdischer Bilder und ihrer Rolle bei der Definition der polnischen Identität sowie mit Erzählungen über die Volksrepublik Polen und der Kommunismus nach ’89.
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2 Gedanken zu „Das Ringen um die jüdisch-polnische Geschichte“

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