Paul Celan – Weihnachten in Berlin

Paul Celan im Alter von 18 Jahren (Passfoto, 1938).
Wikipedia. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei

Bis heute herrscht in der Celan-Forschung bei einem bestimmten Datum Unklarheit: Entweder am 9. oder am 10. November 1938 hielt sich der 17-jährige Jude Paul Antschel aus Czernowitz in der Bukowina zum ersten Mal in Berlin auf.(1) Er sollte sich später Paul Celan nennen und zu einem weltberühmten Dichter werden. Es war nur ein kurzer Aufenthalt, die Hauptstadt Nazideutschlands nur eine Durchreisestation auf seiner Fahrt ins französische Tours. Dort wollte Celan ein Medizinstudium aufnehmen.

Doch auch wenn Celan offenbar den Bahnhof nicht verließ, wurde er möglicherweise schon zu diesem Zeitpunkt Zeuge der nationalsozialistischen Brutalität, die wenig später sein Leben irreversibel prägen sollte. Denn der 10. November war der Tag nach der heute so bezeichneten Reichspogromnacht. Überall in Deutschland wurden in dieser Nacht gezielte Gewaltakte an Juden verübt sowie jüdische Geschäfte, Einrichtungen und Synagogen in Brand gesetzt. Während oder unmittelbar infolge der Ausschreitungen starben über 1300 Menschen. Äußerungen Celans über seinen ersten Berlinaufenthalt sind nicht bekannt. Doch sein 1962 entstandenes Gedicht „La Contrescarpe“ lässt vermuten, dass er den Rauch über der Stadt, den die zahlreichen Brandstiftungen nach sich gezogen hatten, vom Bahnhof aus gesehen hat.

La Contescarpe

Über Krakau
Bist du gekommen, am Anhalter Bahnhof
Floß deinen Blicken ein Rauch zu,
Der war schon von morgen.

„Von morgen“ ist der Rauch, weil ihn später auch die Verbrennungsöfen der Vernichtungslager erzeugten – im Jahr 1938 also ein Vorbote. Der Literaturhistoriker Wolfgang Emmerich weist in seiner Monographie „Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen“ allerdings darauf hin, dass es letztlich unerheblich ist, ob Celans Gedicht auf ein reales Erlebnis verweist oder nicht: An seinem Verhältnis zum NS-Staat hätte eine Reise, die er ein paar Tage früher oder später angetreten hätte, nichts verändert. Auch die Wahrheit des Gedichts bleibt davon unberührt, lässt sich hinzufügen.

Sein Studium konnte Celan nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 nicht mehr fortsetzen. Er musste, zurück in der Bukowina, in Arbeitslagern für jüdische Männer Zwangsarbeit leisten. Seine beiden Eltern starben im ukrainischen Arbeitslager Michailowska; von seiner Mutter ist bekannt, dass Deutsche sie durch einen Genickschuss ermordeten. Auch die junge Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, Celans Cousine zweiten Grades, starb in diesem Lager.

Erst gut 29 Jahre nach der Reichspogromnacht, im Dezember 1967, hielt sich Celan wieder in der deutschen Hauptstadt auf, diesmal blieb er 13 Tage. Er war von seinen Freunden Peter Szondi, der Literaturwissenschaft an der Freien Universität lehrte, und Walter Höllerer seitens der Akademie der Künste zu Lesungen eingeladen worden.
In der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember verfasste Celan in Berlin ein titelloses Gedicht:

Du liegst im großen Gelausche,
umbuscht, umflockt.

Geh du zur Spree, geh zur Havel,
geh zu den Fleischerhaken,
zu den roten Äppelstaken
aus Schweden –

Es kommt der Tisch mit den Gaben,
er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau
Mußte schwimmen, die Sau,
für sich, für keinen, für jeden –

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen
Nichts
stockt.

Szondi hat später, nach Celans Tod, in seinem Aufsatz „Eden“ dargelegt, dass man sich dem Sinn des Gedichts nur nähern kann, wenn man – wie Szondi – weiß, was der Dichter während seines Berlinaufenthaltes erlebte. Denn wie sonst hätte man Kenntnis darüber, dass mit den „Fleischerhaken“ jene gemeint waren, die Celan in Begleitung Szondis in der Gedenkstätte des Gefängnisses Plötzensee gesehen hatte? Die Nazis hatten hier zwischen 1933 und 1945 über 2800 Menschen, die meisten aus dem antifaschistischen Widerstand, hinrichten lassen. Ab 1942 dienten Fleischerhaken zum Erhängen der Verurteilten.

Ohne biographisches Wissen ließe sich wohl auch nicht ahnen, dass die „roten Äppelstaken aus Schweden“ eine weihnachtliche Tischdekoration darstellten, die Celan nach seinem Besuch der Gedenkstätte auf einem Weihnachtsmarkt am Funkturm aufgefallen war. Celan kombinierte also in seinem Gedicht zwei gegensätzliche Motive: Die „Fleischerhaken“, ein Relikt aus der Zeit der Naziherrschaft, des Rassenwahns und des auszehrenden Kriegs, und die „roten Äppelstaken“, ein Symbol für die wieder traditionell gepflegte, auch restaurativ gemeinte Weihnachtskultur in der Bundesrepublik. Dass diese zwei Sphären sich allerdings nicht scharf voneinander trennen ließen, bewies Celan selbst durch sein unermüdliches Anprangern antisemitischer Denkmuster, die er bei deutschen Schriftstellern und Intellektuellen immer wieder entdecken musste.

In der nächsten Strophe des Gedichts „biegt“ der „Tisch mit den Gaben“, der die Üppigkeit des nachkriegsdeutschen Konsums symbolisieren soll, „um ein Eden“ – auch dieser Ausdruck lässt sich nur mithilfe Szondis verstehen. Auf einer gemeinsamen Autofahrt durch die Straßen Westberlins machte dieser, wie er schreibt, seinen Freund auf das Apartmenthaus „Eden“ aufmerksam, wo vor dem Krieg ein elegantes Hotel mit demselben Namen gestanden hat. Dort waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den letzten Stunden ihres Lebens gefangen gehalten worden.

Die nächste Strophe des Gedichts bezieht sich sodann auf den Mord an den beiden sozialistischen Politikern: Liebknecht, den „Mann“, traf ein Kugelhagel von Freikorpsleuten, er ward dadurch „zum Sieb“; Luxemburg, die „Frau“, wurden erschossen und anschließend in den Landwehrkanal geworfen. All das hatte der Dichter, wie Szondi wusste, in einem Dokumentationsband lesen können, den er selbst ihm am ersten Abend seines Berlin-Aufenthalts gegeben hatte.

Welche Rolle spielt also der Zufall in der Kunst? Wäre Celans Aufenthalt in Berlin nur ein wenig anders verlaufen, hätte es das Gedicht nicht gegeben. Doch Szondi konstatiert in seinem Aufsatz, dass der empirischen Prämisse eine tieferliegende Motivation vorausgehe. Diese habe dazu geführt, dass Celan aus den vielen Erlebnissen seiner Berlin-Reise gerade jene, die das Gedicht ausmachen, auswählte und motivisch miteinander verknüpfte – und diese Motivation ließe sich nicht auf den Zufall reduzieren.

Celan reiste am 29. Dezember aus Berlin ab und kehrte nicht mehr zurück. Seit knapp 20 Jahren war ihm Paris zur Heimat geworden. Zeit seines Lebens allerdings schrieb er in der deutschen Sprache, die sowohl seine Muttersprache als auch die der Mörder seiner Eltern war. Gut drei Jahre nach seinem Berlin Aufenthalt, vermutlich am 20. April 1971, beging er Suizid in der Pariser Seine.

(1) Emmerich, Wolfgang: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen, Göttingen 2020

l-k

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