Ein heute noch beunruhigendes Gedicht von Czesław Miłosz
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Armer Christ sieht das Ghetto
Bienen umbauen die rote Leber,
Ameisen umbauen den schwarzen Knochen,
Das Zerreißen beginnt, Zertreten der Seidenstoffe,
Das Zerschlagen von Glas, Holz, Kupfer, Nickel, Silber,
Gipsernem Schaum, Blech, Saiten, Trompeten, Blättern, Kugeln, Kristallen –
Pah! Phosphorfeuer von gelben Wänden
Verschlingt die menschliche und tierische Behaarung.
Bienen umbauen die Wabe der Lunge,
Ameisen umbauen die weißen Knochen,
Papier wird zerrissen, Kautschuk, Leinwand, Leder, Flachs,
Fasern, Stoffe, Zellulose, Haar, Schlangenschuppen,
Drähte, Dach und Wand stürzen im Feuer ein, und Glut erfaßt das Fundament.
Übrig bleibt nur, mit einem Baum ohne Blätter, die sandige zertretene Erde.
Langsam den Tunnel grabend, bewegt sich der Wächter-Maulwurf,
Ein kleines rotes Lämpchen vor die Stirn geheftet,
Berührt die Körper der Begrabenen, zählt, wühlt weiter,
Erkennt die Menschenasche am regenbogenfarbnen Dunst,
Jedes Menschen Asche schillert in anderer Farbe.
Bienen umbauen die rote Spur,
Ameisen umbauen den Raum nach meinem Körper.
Ich habe Angst, große Angst vor dem Wächter-Maulwurf.
Sein Lid ist geschwollen wie das eines Patriarchen,
Der viel im Schein der Kerze gesesen hat,
Vertieft in das große Buch der Gattung.
Was sage ihm ich, Jude des Neuen Testaments,
Der zweitausend Jahre auf die Wiederkehr Christi wartet?
Mein zerschlagener Körper liefert mich seinem Blick aus,
Und er wird mich zu den Gehilfen des Todes zählen:
den Unbeschnittenen.
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Czesław Miłosz veröffentlichte seine Gedichte Campop di fiori und Armer Christ sieht das Ghetto im Untergrund des Zweiten Weltkrieges. Da er bereits kurz nach dem Krieg für fünfzig Jahre ins Exil ging, wurden seine Werke wie auch die genannten Gedichte erst in den achtziger Jahren diskutiert. Da hatte Miłosz den Nobelpreis für Literatur erhalten. Ein wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion stellt Jan Blońskis Essay 1987 in der liberalen katholischen Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ dar. Er setzt sich in einem fiktiven Gespräch mit dem Verhältnis zwischen christlichen Polen und Juden und ihrer wechselnden Geschichte auseinander. Er begründet die Schuld, die Polen am Schicksal der Juden tragen, auch wenn sie nicht die eigentlichen Täter im Holokaust darstellten. Eine Position, die auch heute zu heftigsten Konflikten führt. Als Beweis dafür dienen ihm die beiden genannten Gedichte, wobei insbesondere das vom armen Christen jeden Leser beunruhigen, wenn nicht verstören muss.
Es weckt Ängste und läßt einen das Bild des Maulwurf-Wächters nicht so schnell wieder vergessen. Dieser Mauwurf wühlt sich durch die Asche der Toten und vermag auch hier noch zwischen Juden und Christen und zwischen Tätern und Opfern unterscheiden. Da wird das Gewissen nachhaltig beunruhigt.
Der Essay regt den aufmerksamen Leser zur Reflexion über die Erinnerungsarbeit im eigenen Land an und darüber, wie weit in unserer heutigen Gesellschaft noch ein Gefühl für die Verantwortung und die geschichtliche Schuld an den Verbrechen des Holokaust gegenwärtig ist. Das Ende des Warschauer Ghettoaufstandes vor 78 Jahren und das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 76 Jahren geben zum Nachdenken Gelegenheit .
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Jan Blońskis Essay von 1987
Ein Gedanke zu „Unsere Angst vor dem Maulwurf-Wächter“
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