In der Schweizer Wochenschrift Tachles setzt sich Andreas Mink mit den diplomatischen Bemühungen der USA im Konflikt zwischen Israelis und Pästinensern vor dem historischen Hintergrund auseinander. Er gesteht ihnen nur geringe Erfolgsaussichten zu
. . . denn Ansprechpartner sind einmal mehr Partner in Europa und der Region. Iran wird dagegen mit neuen Sanktionen belegt. Wozu diese leere Geste dient, ist unklar. Doch Blinken und Joe Biden halten an einem Prinzip der amerikanischen Außenpolitik fest, das spätestens am 7. Oktober 2023 gescheitert ist. Hier liegt ein Grundmuster des Palästina-Konfliktes nach den Kriegen von 1967 und 1973: Seither halten die USA als «unerschütterlicher» Protektor im Rahmen einer «mit Eisen gepanzerten» Allianz mit Israel das Monopol als Ausrichter und Regisseur des «Friedensprozesses» mit den Palästinensern. Im Kalten Krieg hatte dies dank der klaren Fronten zwischen Israel und Staaten wie Syrien oder Irak im Lager der Sowjets eine gewisse Logik: Washington wollte den Einfluss Moskaus auf die Palästinenser minimieren und Israel als Vorposten des Westens stärken.
Dabei weist Mink auf die von Frankreich und Großbritannien (Sykes-Picot-Abkommen) noch vor Ende des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich geschaffenen Einflusssphären hin. –
Die britischen und französischen Mandate für Syrien und Palästina hatten gegen massive Widerstände in der Region die Entstehung eines christlichen maronitischen Kerns des heutigen Libanon und der von Zionisten erstrebten «nationalen Heimstätte» in Palästina auf Grundlage der Zerstückelung des historischen Syriens vom Sinai bis ins Zweistromland ermöglicht. Doch im Zweiten Weltkrieg entstanden in Ägypten, Syrien und der damaligen – von den Briten gebildeten – Monarchie Irak neue, konkurrierende Modelle eines arabischen Nationalismus. Ein jüdischer Nationalstaat hatte darin kaum Platz. Diese Visionen eines grossen, vielleicht sogar Ägypten, sicher aber die Levante, Syrien und den Irak umfassenden Staates passte jedoch keineswegs in britische und dann amerikanische Ordnungskonzepte. Allerdings hatten die Briten als Schutzmacht hinter dem Irak und Jordanien dabei ihre Hände im Spiel.
Israel wurde in diesem Zusammenhang nach 1948 der Garant einer bleibenden «Zersplitterung» des arabischen Raums in konkurrierende und von äusseren Mächten beeinflussbare Staaten. Ohne Palästina war ein umfassender, arabischer Nationalstaat undenkbar. Dabei gehen Spannungen etwa zwischen Jordanien und Saudi-Arabien bis auf die 1920er Jahre zurück. Von Washington aus gesehen, war es daher keineswegs irrational – oder dem Einfluss sinistrer Lobbys geschuldet –, Israel zu unterstützen. Simpel gesagt, bleibt die Verhinderung regionaler Hegemone ein Leitprinzip amerikanischer Aussenpolitik. Und die Unterstützung aus Washington seit dem 7. Oktober und nun westliche Hilfe bei der Drohnen-Abwehr machen deutlich, dass Israel zu wirklicher Dominanz in Nahost doch das Zeug fehlt.
Als die USA 2003 in den Irak einmarschierten, befreiten sie zwar Israel von einem ernstzunehmenden Gegner, hoben aber zugleich das bis dahin bestehende Gleichgewicht zwischen Irak und Iran auf. So konnte letzterer jetzt als erstarkter Gegenspieler von Israel und USA auftreten. –
Gleichzeitig verloren die Palästinenser unter der Käseglocke des amerikanischen Monopols im «Friedensprozess» im wahrsten Sinne des Wortes ständig an Boden. Obendrein hat nicht zuletzt Netanyahu seit der Jahrtausendwende ein «Konflikt-Management» etabliert, bei dem die palästinensische Nationalbewegung, gespalten in Hamas-Gaza und die PLO-Westbank, auch stetig an internationaler Unterstützung und Bedeutung eingebüßt hat. Dies gipfelte in den «Abraham-Abkommen» der Trump-Ära, die Biden als Instrument einer neuen Frontbildung arabischer Staaten mit Israel gegen den Einfluss Chinas in der weiteren Region unter amerikanischen Sicherheitsgarantien und massiven Militärhilfen ausbauen will. Die Palästina-Problematik hat hierin keinen Platz.
Dass Washington am Monopol im «Friedensprozess» festhält, mag für Europäer durchaus bequem sein. Russland und China unternahmen ebenfalls keinerlei Anstrengungen für die Selbstbestimmung der Palästinenser, sondern entwickelten im Gegenteil zunehmend enge Beziehungen mit Israel. Damit erhöhte sich der Handlungsspielraum Israels, das bekanntlich bis heute eine Annäherung an Kiew meidet, während ein offener Bruch mit arabischen Staaten auch nach über 33 000 Toten in Gaza nicht erkennbar ist. Dies auch vor dem Hintergrund der nun schon seit gut 15 Jahren laufenden Debatten in Washington über einen «Schwenk nach Asien» und einen «schrittweisen Rückzug aus Nahost». Dazu soll etwa laut einem neuen Essay von Steven Simon und Jonathan Stevenson in «Foreign Affairs» auch die weiterhin aktuelle «Normalisierung» zwischen Israel und den Saudis unter amerikanischer Ägide dienen.
Bis zum 7. Oktober war der Palästinakonflikt in der aktuellen Weltpolitik weitgehend in den Hintergrund getreten. –
. . . .mit ihrem barbarischen Terror wollte die Hamas eine regionale Eskalation auslösen, die maximal zur Zerstörung Israels als jüdischem Staat führen sollte. Jedenfalls hat der Terror das von Washington gedeckte «Konflikt-Management» aufgebrochen. Damit steht eine Austragung des Konfliktes bis zum bitteren Ende im Raum, wobei die Netanyahu-Version zunehmend wahrscheinlich wird: ein unbewohnbares Gaza, forcierte Besiedlung der Westbank, weitgehende Schwächung oder sogar Zerstörung der Hizbollah und Irans mit amerikanischer Hilfe. Einem solchen «grossen Aufwasch» will Blinken nun diplomatisch gegensteuern. Biden steht hier auch innenpolitisch unter Druck, hat er doch durch die «mit Eisen gepanzerte» Unterstützung Israels seit dem 7. Oktober nicht nur Netanyahu freie Hand gegeben und sich gleichzeitig an ihn gekettet, sondern eine zunehmende Spaltung der eigenen Partei produziert, wie Ron Brownstein als profunder Kenner der amerikanischen Politik im «Atlantic» zusammenfasst: «Zwei Drittel der Demokraten lehnen weitere Waffenlieferungen an Israel ab; ihre Sympathiewerte für Netanyahu liegen bei fünf Prozent, und drei Viertel wünschen, dass Biden Israel zur Einstellung des Krieges bewegt.»
In seinem Artikel in der New York Times vom 21.4.2024 zeigt Jeremy W. Peters ebenfalls, wie massiv die demokratische Anhängerschaft die derzeitige Israel-Politik der Biden-Regierung ablehnt. Er schildert auch in welchem Umfang dadurch der Zusammenhalt der Demokratischen Partei im Vorfeld des Parteitags in Chicago gefährdet ist.
Daneben baut China seinen Einfluss in dieser Region aus. So hat es erst kürzlich einen Vertrag mit Israel über Nutzungsrechte im Hafen von Tel Aviv geschlossen und vor nicht allzu langer Zeit eine Annäherung zwischen den beiden Konkurrenten Iran und Saudi-Arabien vermittelt. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine entwickelt sich außerdem eine zunehmende Zusammenarbeit Russlands mit dem Iran und China. –
Spannend ist hier jedoch, dass der chinesische Außenminister Wang Yi Anfang dieser Woche in Telefonaten mit Teheran und Riyadh das Recht Irans auf Selbstverteidigung nach dem israelischen Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus betont hat. Der saudische Kronprinz Muhammad bin Salman stimmt dem angeblich ausdrücklich zu. Gleichzeitig ruft Wang Yi nach Deeskalation und Diplomatie in Richtung einer Zweistaatenlösung. Dieser Ruf erscheint als rare Gemeinsamkeit von Washington, Riyadh, Beijing oder auch Neu-Delhi. Dies könnte – und sollte – eigentlich die Voraussetzung für eine internationale Nahost-Friedenskonferenz aller Beteiligter – also einschließlich Russlands und Chinas – sein. Aber hinter dieser Formel dürfte letztlich die panische Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Lage am 6. Oktober 2023 stehen, nach einer Neuauflage des Konflikt-Managements. Dies erscheint angesichts der weitgehenden Zerstörung Gazas und zunehmender Ausschreitungen von Siedlern auf der Westbank schwer vorstellbar. Und natürlich bleibt Iran hier mindestens das große Fragezeichen. Doch im Alleingang kann die Islamische Republik das «zionistische Gebilde» sicher nicht zerstören.
Sollte dann wirklich ein palästinesischer Staat zustande kommen, ist nicht abzusehen, wie er sich in diesem Gewirr von konkurrierenden Interessen der Nachbarn und der Weltmächte behaupten könnte. –
Vor diesem sicherlich unvollständigen Hintergrund wäre die Biden-Regierung gut beraten, das kontraproduktive und auch innenpolitisch zunehmend untragbare Monopol im «Friedensprozess» endlich aufzugeben und damit auch der konkurrierende Gruppe China-Iran-Russland die bequeme Rolle als Kritiker und Störer zu nehmen. Am Status quo in Israel-Palästina dürfte sich dadurch im Grundsatz wenig ändern. Aber vielleicht würden durch eine echte Diplomatie zwischen allen Beteiligten das Ende des Blutvergiessens in Gaza und menschenwürdige Lebensumstände für die Palästinenser mit dem Ziel ihrer Integrierung als gleichberechtigte Bürger in einem zukünftigen Israel denkbar. Ein solcher Staat wäre als Teil einer Variante des Vereinigten Europa denkbar, also eine Neuauflage von Ideen aus den Jahren nach beiden Weltkriegen: ein Nahost der Kulturen und Regionen mit Sicherheit für alle Bewohner – nun aber einschließlich einer jüdischen «Heimstätte».
Das hieße also ein gemeinsamer israelisch-palästinensischer Staat mit den gleichen Bürgerrechten für beide Ethnien und der Aufgabe der jetzigen Verfasstheit Israels als jüdischem Staat. Diese Lösung, die schon von verschiedenen Seiten in Israel, in Palästina und in der jüdischen Diaspora überdacht wird, benötigt aber wahrscheinlich noch eine breite politische und gesellschaftliche Diskussion auf allen Seiten, bevor sie eine Chance auf Verwirklichung hat.
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