Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten – wie definieren sie sich?

Israelitischer Tempel in Czernowitz – Photograph unbekannt – gemeinfrei

Igor Mitchnik, mit seiner jüdischen Familie als sogenannter Kontingentflüchtling aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland eingereist, beschreibt in einem Essay im Tagesspiegel wie er sich langsam seiner neuen deutschen Umgebung und dem Denken in deutschen Kategorien und vor allem der deutschen Sprache nähert. Dabei bleibt offensichtlich die Auseinandersetzung mit der Religion erst einmal ausgeklammert. Trotz aller Annäherung an den deutschen Lebensalltag verspürt er in seiner Identität eine Lücke, die er erst während eines längeren Aufenthaltes in der Ukraine zu schließen beginnt. Er beschäftigt sich mit mit den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine, lernt unterschiedlichste Schicksale kennen, begegnet dem jüdischen Leben dort. Er lernt, wie widersprüchlich und gewalttätig die Geschichte gerade in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg verlaufen ist, angefangen von den Auseinandersetzungen mit den polnischen Nachbarn, dem Unabhängigkeitskampf gegen die Rote Armee und bis hin zu grausamsten Pogromen gegen die große jüdische Bevölkerungsgruppe. Lemberg mit seiner wechselvollen Geschichte mag als ein Beispiel dienen. Dem Autor wird dabei klar, aus wieviel Schichten und Einzelheiten sich eine, seine Identität schließlich zusammensetzt, – und welche Kraft es für den einzelnen Menschen aber auch für die neu geformte Gesellschaft darstellt, diese vielen Widersprüchlichkeiten in sich zu vereinen, nicht nur nebeneinander bestehen zu lassen.
Er wendet sich dann gegen die Forderung einer schnellen Assimilation in der Mehrheitsgesellschaft und benennt dabei Alexander Dobrindt, den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag mit seinem Beitrag zur „Verteidigung unserer christlich-abendländischen Leitkultur“ als einen Meinungsführer. Er erlebt hier, wie sich die hiesige Mehrheitsgesellschaft durch Abgrenzung gegen Minderheiten definiert und wenig Interesse für die Schicksale der Flüchtlinge, Zugereisten und Eingewanderten zeigt – und hadert mit seinen unterschiedlichen Identitäten.
Vielleicht weckt dieses Erleben in verschiedenen Teilen der Mehrheitsgesellschaft schmerzhaft die Erinnerung an die Erfahrung mit den über 12 Millionen Flüchtlinge aus dem deutschen Osten und aus Osteuropa nach 1945. Diese Menschen, mit ihrem oft ungewohnten Dialekt als fremd empfunden, mußten auf behördliche Anordnung in den Wohnungen und Häusern zusätzlich aufgenommen werden. Ihre Integration war nicht selbstverständlich, eher eine Kraftanstrengung und erst in der zweiten oder gar dritten Generation akzeptiert.

„Weil ich hier leben will …“. Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas (hg. von Walter Homolka, Jonas Fegert, Jo Frank. Herder, 224 S., 20 €). Der Band erscheint anlässlich des ersten Jüdischen Zukunftskongresses November 2018.
TOL-