„Der Polnisch-sowjetische Krieg 1919 – 1921“ – eine Pflichtlektüre.

In der aktuellen politischen Lage lohnt es sich, Stephan Lehnstaedts Buch „Der Vergessene Krieg. Der Polnisch-sowjetische Krieg 1919 – 1921″ ein weiteres Mal zur Hand zu nehmen. Waren nach den drei polnischen Teilungen während des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg die Verhältnisse in Osteuropa recht stabil geblieben, traten jetzt dort weitgehende Veränderungen ein.

Mit dem Kriegsende 1917 / 1918 zerbrachen die drei Monarchien, die fast 120 Jahre den verschiedenen Ethnien und Religionen in diesem Territorium ein halbwegs friedliches Miteinander ermöglicht hatten. An ihre Stelle traten neue Nationalstaaten und ein Land, die UdSSR, das sich dem Sozialismus und dem Internationalismus verschrieben hatte. Sie alle mussten sich erst in den völlig veränderten Umständen nach dem Ersten Weltkrieg orientieren, ihre eigene Staatlichkeit begründen und sich gegenüber den Nachbarn behaupten. Die Entente als Sieger bestimmte die Politik. Russland, Deutsches Reich und Österreich mussten sich als Verlierer damit arrangieren.

So fand in Osteuropa seit 1917 der russische Bürgerkrieg statt, die verschiedenen Unabhängigkeits-bewegungen etablierten sich – in der Ukraine allein gleich drei -, und Polen besetzte Wilna, Lemberg und auch Kiew. Dabei unterstützte die Entente Polen im Konflikt mit den UdSSR und lieferte aus dem Weltkrieg reichlich vorhandene Waffen. Polen war hier die Rolle des Bollwerks gegen die Bolschewiki zugedacht, die sich den Export der Weltrevolution auf die Fahne geschrieben hatten. In diesem Polen mussten sich aber die verschiedenen Parteien erst einmal darüber klar werden, welcher Vorstellung ihr Land in Zukunft folgen sollte. Die Spanne reichte von der alten Rzeczpospolita nach der Union von Lublin über einen ethnisch homogenen Staat bis zu einer von Polen angeführten Föderation kleinerer Staaten zwischen Deutschem Reich und UdSSR.

Josef Pilsudski 1919. Fotograf unbekannt..United States Library of Congress. Gemeinfrei.

In dieser Situation war Josef Pilsudski als Führer der Polnischen Legion und Staatsgründer politisch und militärisch die bestimmende Persönlichkeit. Pragmatisch im politischen Handeln, mutig und kreativ im militärischen Vorgehen glückte ihm 1921 die Verteidigung Warschaus gegen die Rote Armee unter Tuchatschewski – das sogenannte Wunder an der Weichsel. Damit war Lenins Plan, die Revolution nach Polen und von dort weiter ins westliche Europa zu tragen, gescheitert.

Josef Stalin, 1878 -1953. 1942 . Fotograf unbekannt..United States Library of Congress. Gemeinfrei.

Als Sündenbock für die sowjetische Niederlage wurde Stalin benannt, der als Politoffizier bei Budjonnys Reiterarmee vor Lemberg eingesetzt war. Ein Makel, für den er sich in Zukunft grausam rächte. Mit der Hinrichtung Tuchatschewskis 1937 und aller damals beteiligten Offiziere und mit dem Verblutenlassen Warschaus 1944 – als die Rote Armee vom östlichen Weichselufer zusah, wie der Aufstand der polnischen Armia Krajowa von deutschen Truppen niedergekämpft wurde.
Nach sechs Jahren ununterbrochenen Kriegführens waren 1920 die Beteiligten so abgekämpft und zu keiner größeren Anstrengung mehr imstande, dass nach einem Waffenstillstand am 18. März 1921 der Friede von Riga geschlossen wurde. Mit dem Ergebnis war keine Partei richtig zufrieden. Polen hatte sich größere Landgewinne erhofft, behielt aber Lemberg und Wilna. Die UdSSR war auf ihrem Weg nach Westen gescheitert, übte aber weiterhin bestimmenden Einfluss auf Weißrussland und die Ukraine aus. Beide Länder hatten ihre Unabhängigkeit nur kurzfristig erlebt. Litauen musste sich auf Kaunas als Ersatzhauptstadt zurückziehen und begegnete seitdem Polen mit Distanz. Das Verhältnis zwischen Polen und Russland ist ebenfalls bis in die heutigen Tage durch ein tiefes Misstrauen bestimmt. Die Ukraine hatte sich in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit entscheidendere Unterstützung von Polen erhofft, war aber selbst zerstritten und zu schwach, um sich gegen die Rote Armee zu behaupten.

Als die größten Verlierer beschreibt Lehnstaedt die Juden Osteuropas. Alle beteiligten Konfliktparteien verfolgten und misshandelten sie, gleichgültig, ob es russische oder polnische Soldaten waren, ob städtische Bürger oder Landbevölkerung. Hatten sich die Juden von der Sowjetunion und ihrem Versprechen der Klassenlosigkeit bessere Lebensbedingungen erhofft, sahen sie sich bald enttäuscht und zusätzlich mit dem Vorwurf, Teil der „Judäokommune“ zu sein, konfrontiert. So boten sie den Gesellschaften der neuen Nationalstaaten weitere Angriffsflächen. Lehnstaedt schätzt, dass Pogrome, Hunger und Krankheiten in dieser Zeit zu etwa 300 000 Toten unter den osteuropäischen Juden geführt haben.

Die Konfliktlinien lassen sich über den Zweiten Weltkrieg, das damalige deutsche Besatzungsregime, die Auflösung des Warschauer Paktes bis in die Gegenwart verfolgen. Sie werden auch die Zukunft unserer Weltgemeinschaft bestimmen. Deshalb sind die Kenntnisse ihrer Vorgeschichte unverzichtbar.
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