Es lohnt sich, mit zeitlichem und geographischem Abstand noch einmal auf das Geschehen um das Attentat von Christchurch am 15.3.2019 zurückzuschauen. Unsere erste Begegnung mit Christchurch wenige Wochen vorher war eindrucksvoll, besonders nach dem, was wir aus Berlin gewohnt waren. Eine friedliche, freundliche Stadt, entschleunigter Verkehr, großzügige Freiräume für Fußgänger in der Innenstadt. Und vor allem eine für Berliner überwältigende Sauberkeit. Vergeblich habe ich auf den Straßen und in den gepflegten Parks nach Zigarettenstummeln oder Kronkorken gesucht – es gibt sie nicht. Nach dem Erdbebenunglück von Februar 2011 erholt sich die Stadt allmählich von den ausgedehnten Schäden und gibt sich große Mühe, auch das Lebensgefühl der Bürger positiv zu stimmen. So hat sie vor wenigen Jahren eine große kommunale Galerie gebaut. Ein Gebäude, dass durch seine anspruchsvolle Architektur auffällt. In den großzügigen Freiräumen fühlt sich der Besucher ausgesprochen wohl, er findet dort ein attraktives Angebot an Gastronomie und Handel und er betritt die Galerie gern, denn Eintritt und Service sind dort frei.
Umso größer ist dann das Erschrecken bei den Neuseeländern und den Besuchern, als sich die Nachricht vom Attentat verbreitet.
Hier zeigt sich die Besonderheit der vielfältigen neuseeländischen Gesellschaft, wie sie sich geschlossen und eindrucksvoll solidarisch mit den Opfern und ihren muslimischen Bürgerinnen und Bürgern zeigt. Eine Woche später gibt es einen Aufruf zu einer landesweiten Schweigminute, zahlreiche Aushänge sind dazu in der Öffentlichkeit zu sehen. Selbst im kleinsten Museum auf dem flachen Land wird sie angesagt und beachtet. Am 24.März findet eine große Demonstration in Auckland statt, sie wird von allen sozialen Schichten, Altersgruppen, Ethnien und Bekenntnissen getragen. In der Innenstadt halten die unterschiedlichsten Menschen ihre persönlichen Empfindungen von Betroffenheit und Trauer auf Plakatwänden fest. Bei einer weiteren Kundgebung gegen Rassenhass in Christchurch tritt Ministerpräsidentin Jacinda Ardern mit einem Kopftuch auf, ein unübersehbares Zeichen der Solidrität und Anteilnahme. Viele Frauen bis hin zu Polizistinnen schließen sich dem an.
– In der Öffentlichkeit und in den Medien wird Rassenhass gegenüber Muslimen unmissverständlich als Ursache für das Attentat benannt. Gleichzeitig gibt es klare Reaktionen aus der Wirtschaftswelt Neuseelands. So stellen die Vertreter großer Fonds öffentlich scharfe Anfragen an die Unternehmen, die soziale Netzwerke betreiben. Warum haben sie erst auf Hinweise aus Neuseeland die erschreckenden Beiträge des Attentäters aus dem Netz genommen, bzw. seine weitere Verbreitung nicht unterbinden können. Vorangegangene Gelegenheiten, sich auf solch einen Fall einzustellen, gab es genug. Und die Fonds reagieren auch praktisch, etliche beginnen, ihre Portefeullies umzuschichten und Papiere der sozialen Netzwerke zu verkaufen. Die Buchhändler in Neuseeland verbannen die Bücher des Schriftstellers Jordan Peterson aus ihren Regalen. Seine Bücher vermittelten eine extrem verstörende Einstellung. Bei einer Lesereise durch Neuseeland posierte er im Februar mit einem Mann, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich bin ein stolzer Islamhasser“ trug.
Im Parlament wird eine Änderung des Waffengesetzes vorgelegt. Die Änderung wurde in diesen Tagen bereits in dritter Lesung fast einstimmig angenommen und damit wirksam. Im Vorfeld hatte der Innenminister wenige Tage nach dem Attentat seine private halbautomatische Waffe an die Polizei übergeben, ein vorbildhafter Schritt. Von allen politischen Lagern wird die dringende Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung des Attentats gefordert. Und so wird bald eine Königliche Kommission – Neuseeland gehört immer noch zum Commenwealth of Nations – ihre Arbeit beginnen.
Die entschlossene Reaktion der Regierung und die einheitliche Haltung der Gesellschaft in Neuseeland wird international aufmerksam beobachtet und gewürdigt. Zahlreiche muslimische Organisationen und Länder äußern ihre Anteilnahme und ihren Respekt für Neuseelands Haltung.
Auch für die jüdische Gemeinde in Auckland ist dieses Ereignis nicht ohne Folgen geblieben, wie ich bei einem Besuch dort feststellen mußte. Seitdem stehen Polizeiposten vor dem Gemeindezentrum, Sicherheitspersonal regelt den Besucherverkehr, die Eltern holen ihre Kinder regelmäßig von der Schule ab.
In der Rückschau fällt der Vergleich im Umgang mit dem Attentat am Berliner Breitscheidtplatz Dezember 2016 ungünstig für Deutschland aus. Nachdem Feuerwehr, Polizei und professionelle Helfer ihre Arbeit vor Ort umsichtig getan hatten, setzte eine Flut von Schuldzuweisungen und Vermutungen ein, Zusammenhänge wurden verschleiert, Unterlagen verändert. Auch die Politik auf allen Ebenen verhielt sich widersprüchlich. Vielleicht brauchten auch wir eine Institution wie den amerikanischen Sonderermittler oder die Königliche Kommission in Neuseeland, die unabhängig und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet solch ein komplexes Ereignis aufklären und Empfehlungen für künftiges Verhalten geben kann.
TOL-
4 Gedanken zu „Das Attentat von Christchurch – eine Rückschau“
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