Zur Ambiguitätstoleranz

Natan Sznaider. TAL

Dem Jüdischen Museum Berlin ist es zu danken, die Vortragsreihe zur Ambiguitätstoleranz initiiert zu haben. So hat der Soziologe Natan Sznaider diesen Begriff bei der Sozialpsychologin Else Frenkel-Brunswik gefunden. Sie versteht darunter das Ertragen-Können von Mehrdeutigkeit. Sznaider hat sich mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten aber auch ihrem Lebenslauf beschäftigt.

Else Frenkel, 1908 in Lemberg geboren, flüchtete 1914 mit ihrer Familie unter dem Eindruck eines Pogroms durch die russische Armee nach Wien. Dort studierte sie nach dem Abitur Mathematik, Physik und Psychologie, wurde in Psychologie promoviert und arbeitete dann am Institut von Charlotte und Karl Bühler. Nach dem deutschen Einmarsch 1938 musste sie erneut flüchten, jetzt in die USA. Am Tag ihrer Ankunft in New York heiratete sie ihren Kollegen Egon Brunswik und erhielt bald darauf die amerikanische Staatsangehörigkeit. Bis 1947 war sie an der UC in Berkeley an sozialpsychologischen Forschungsprojekten beteiligt, so auch an der Studie zur autoritären Persönlichkeit. Später nahm sie Aufgaben in Klinik und anderen Forschungseinrichtungen wahr. Mit mehreren Forschungsstipendien ausgezeichnet war sie auch in Europa tätig. Trotzdem wurde sie in der wissenschaftlichen Community nicht angemessen wahrgenommen. Nach dem Tod ihres Mannes starb sie 1958 durch Suizid.
Die Planung für die jetzige Vortragsreihe erfolgte überwiegend vor dem 7. Oktober. Sie fand vor dem Hintergrund der Diskussion um die Vergleichbarkeit von Menschheitsverbrechen, die sich gegen unterschiedliche Ethnien richtete, statt. Aber auch im Zusammenhang mit der zunehmend eingeengten Auseinandersetzung um den Begriff des Antisemitismus. Sznaider wies dabei auch auf die weiterhin nicht beantwortete Frage nach dem wahren Juden hin.
Nach dem 7. Oktober muss sich jetzt der Begriff der Ambiguitätstoleranz erst recht einer Überprüfung unterziehen. Mit der Wut der erlebten Grausamkeiten vermischen sich die individuellen Narrative und politischen Leidenschaften. Positionen werden für Wahrheiten genommen. Die Frage nach der eigenen Identität wird gestellt. Für das durch die europäische Geisteswissenschaften bestimmte Judentum ist die Haskala, die jüdische Aufklärung, ein weiterhin aktuelles Thema. Ist die damit erreichte Emanzipation und Assimilation ein wünschenswertes Ziel und nicht zugleich Gefahr? Gefahr, das Unverwechselbare, die eigene Identität zu verlieren. Dazu gehören die Erfahrungen der Ostjuden mit dem allgegenwärtigen Pogrom. Die Geschichte Lembergs Anfang des 20. Jahrhundert steht beispielhaft dafür. Die Gewalterfahrungen unter der zaristischen Armee, polnischen Soldaten, den ukrainischen Nationalisten und schließlich der deutschen Besatzung sind unvergessen. Pogrome sind auch der Anstoß für die erste und zweite Alija. Sznaider weist auf den hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik hin, der mit seinen Gedichten „Al haSchechitah“ („Auf der Schlachtbank“) und „Be Ir HaHaregah“ („In der Stadt des Schlachtens“) an das Pogrom vom moldawischen Kischinew erinnert. Ihr Anklang an die Klagen Jeremias sind unüberhörbar. Bialiks Gedichte gehören zum Unterrichtsstoff israelischer Kinder.


Anfang der vierziger Jahre finden sich u.a. Else Frenkel-Brunswik, Adorno, Horkheimer, Hannah Arendt in der amerikanischen Emigration wieder und versuchen Ursprung und Wesen des Totalitarismus, Faschismus und Antisemitismus zu ergründen. 1944 findet sogar einen Konferenz zur Abschaffung des Antisemitismus in den USA statt. Adorno spricht vom Antisemitismus als dem Gerücht über die Juden. Bloch beschreibt mit seinem Begriff der Ungleichzeitigkeit das Nebeneinander von technischem Fortschritt und zurückgebliebenem kleinbürgerlichen Denken. Hannah Arendt bezieht ihren Totalitarismusbegriff auf die totale Kontrolle der Gesellschaft. Else Frenkel-Brunswik sucht den Schlüssel in der autoritären Persönlichkeit, in ihrer Rigidität und Unflexibilität, in ihrem Wunsch nach Einfachheit im Gegensatz zur realen Komplexität der Moderne.
In diesem Zusammenhang wird die Forderung der Ambiguitätstoleranz auch als Provokation verstanden. Sie widerspricht dem Wunsch nach Vereinfachung, hält Widersprüche aufrecht und verweigert Festlegung auf zu rückständig oder zu modern. In dem ewigen Streit zwischen Partikularismus und Universalismus hält sie die Balance der Mitte.
Nach dem Krieg kehren Frenkel-Brunswik und Arendt nicht nach Deutschland zurück, Adorno und Horkheimer gehen dagegen mit dem Institut für Sozialforschung wieder nach Frankfurt. Für sie war möglicherweise die Auseinandersetzung und Lehre in deutscher Sprache unverzichtbar.
In Frankfurt mussten sie sich dann mit Intoleranz und Angriffen von Links auseinandersetzen. Adorno nahm für sich in Anspruch, ausschließlich wissenschaftlich Theorien zu entwickeln aber keine Anleitungen zu Aktionen zu geben.

Natan Sznaider und Daniel Wildmann. TAL

Im anschließenden Gespräch mit Daniel Wildmann, dem Leiter der W. Michael Blumenthal-Akademie, hatte Natan Sznaider Gelegenheit, seinen Vortrag noch zu ergänzen.
Nach Sznaider hätte im Sinne der Ambiguitätstoleranz das umstrittene Bild „People´s Justice“ auf der Dokumenta 15 hängenbleiben und Anlass für Gespräche mit den Künstlern sein können, z.B. über ihre Erfahrungen mit dem Kolonialismus.
Bei einer Gastvorlesung in Kiew sei er auch auf die Persönlichkeit Stefan Banderas zu sprechen gekommen, einem heute noch sehr verehrten Idol des ukrainischen Nationalbewusstseins. Er hätte auch auf dessen Schattenseiten hingewiesen, seinen ausgeprägten Antisemitismus, aber darauf nur Schweigen als Antwort erhalten.
Cancel Culture fände er nicht akzeptabel. Allerdings würde er bei direkter Konfrontation mit Menschen, die sich die Welt nicht teilen wollten, eine andere Haltung einnehmen.
Seiner Meinung nach seien die vielen Antisemitismus-Beauftragten verzichtbar. Sie schafften es nicht, den Antisemitismus abzuschaffen. . . .aber vielleicht seien sie gut, um antisemitische Straftaten zu dokumentieren.
Auch das direkte Schnüffeln nach Antisemitismus wie auf der Dokumenta 15 sei nicht hilfreich. Die Juden müssten sich mit dem Vorhandensein von Antisemitismus abfinden. Daran würden keine Appelle etwas ändern. Da sei klare Konfrontation notwendig.
Er selbst sei in Mannheim als Kind polnischer Juden geboren, nach dem Abitur nach Israel ausgewandert und glaube immer noch an den Zionismus.
Nach seiner Einschätzung sei Israel ein Unding ( ob sich S. dabei auf die politische Verfasstheit als Jüdischen Staat oder auf die aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation bezog, wurde dabei nicht klar).
Seiner Meinung nach entspricht der in diesem Zusammenhang oft benutzte Begriff des Pogrom definitions-gemäß nicht den Ereignissen des 7. Oktober.
Juden lebten seit der Aufklärung in der Mehrdeutigkeit. Der Zionismus habe als Ziel die Eindeutigkeit gehabt, und damit ein universalistisches Ziel aber keine Massenkonvertierung. Mit dem 7.Oktober sei die bisherige Konstellation von Israel und der Diaspora zusammengefallen. Die israelische Gesellschaft sei jetzt aufgerufen, sich mit ihrem Gemeinwesen neu zu definieren, wie auch für die Diaspora die Notwendigkeit besteht, eine eigenständige Definition zu formulieren.
Auf die Frage nach einer Beschreibung des Antisemitismus gab Sznaider den Zuhörern eine knappe Antwort mit auf den Weg:
Antisemitismus sei, die Juden mehr zu hassen als notwendig.

Die Vortragsreihe wird fortgesetzt und verspricht weiterhin interessant zu sein.
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