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Ausführliche Lebensbeschreibung
Alfred Kerr, eigentlich Alfred Kempner schrieb über sich: „Ich bin zu Breslau in der Weihnacht 1867, nicht lange nach zwölf Uhr, geboren, als Sohn des Weinhändlers Emanuel Kempner, der ursprünglich Maler hatte werden wollen ….Mein Vater war dann Weinhändler, auch sein Vater war Weinhändler gewesen…. Dessen Vater war gleichfalls Weinhändler gewesen; der Ururgroßvater ebenfalls….Mein Vater war still, zurückhaltend….nie ein Kaufmann.“ Er hatte einen Freundeskreis polnischer Adliger mit denen er in ihrer Sprache verkehrte. Die Mutter Helene geb. Calé war resolut und lebensfroh und ließ keinen Anlass für einen Scherz vorübergehen, schrieb gern Verse aus dem Stegreif und sang den Kindern französische Balladen zur Gitarre. Das Französische hat früh eine Rolle gespielt, aber auch eine bodenständige, kernschlesische Art, „…die uns zwei Kinder durch lustige Wendungen so oft beseligt hat. Uns zwei: mich und meine ältere, sehr geliebte Schwester Annchen…,die die zuverlässigste Freundschaft meines ganzen Lebens geblieben ist. Meine Schwester Annchen und ich hatten eine sehr glückliche Kindheit. Das Schönste war immer der Sommeraufenthalt im schlesischen Gebirge“. Das Wohnhaus der Familie lag gegenüber dem Stadttheater, welches eine wichtige Rolle in Alfred Kerrs Schulzeit spielte. Der für ihn wichtigste Lehrer auf dem Gymnasium war von bleibenden Einfluss: „…Selbstzucht. Kategorischer Imperativ. Ihm verdank‘ ich fast alles. Er hat uns Griechisch und Deutsch gelehrt. Seinen Rhythmus nahm ich ins Leben. …er ist der Einzige vor dem ich Angst habe. O Gott, was mag er sagen, wenn er meine Veröffentlichungen liest…“ „Ich hatte früh den Mitschülern angekündigt, dass ich für die Schriftstellerlaufbahn meinen Vatersnamen in Kerr zusammendrängen werde. Die gesetzliche Erlaubnis gab mir 1911 der preußische Minister von Moltke. Der Name Kempner war für einen Schreibenden durch die Dichterin Friederike bloßgestellt. Sie war meine Tante nicht. Sie waaar es nichttt!!!“ Zwischen Abitur und Studium schrieb Alfred Kerr einen Aufsatz über einen Breslauer Arzt, einem Lessinggegner. Die „Tägliche Rundschau“ in Berlin druckte ihn mit der Aufforderung zu weiterer Mitarbeit. „Dies war mein Erstdruck. Jetzt entschieden meine Eltern, mich nach Berlin zu lassen. (Sie wünschten einen Sohn als Professor für Geschichte und Literatur.) Nach zwei Semestern in Breslau (Geschichte/Germanistik/Philosophie) ging Alfred Kerr noch nicht zwanzig nach Berlin.
Der junge theaterbegeisterte Student kommt in einer Epoche vielschichtiger gesellschaftlicher Veränderungen nach Berlin, dem Zentrum derselben. Eine beispiellos schnelle Entwicklung in der Industrie, den Naturwissenschaften mit harten sozialen Umbrüchen verändert das Leben und spiegelt sich in der Kunst wieder. Neue Stilrichtungen wollen sich durchsetzen, im Theater ist es der Naturalismus. Alfred Kerr besucht regelmäßig die Theater und beginnt schon als Student Anfang der Neunzigerjahre Kritiken zu schreiben. Berlin ist die Zeitungsstadt schlechthin, und alles geht flott: nach der Aufführung wird telefonisch aus dem Theater die Vorkritik an die Redaktion für die Morgenausgabe gegeben, so als „Appetithappen“ und in der Abendausgabe steht dann die ausführliche Kritik. Kerr wird schnell bekannt, weil er einen neuen Ton einbringt, einen Sinn für einen neuen Rhythmus in der Sprache und Leidenschaft. Das ist es, was ihn von der akademischen älteren Generation der Kritiker unterscheidet. Er hat das Glück, den „Einbruch“ des Realismus zu erleben, er bekommt die neue realistische Epoche von Anfang an mit und arbeitet mit großer Neugier dafür, dass sich neue Autoren durchsetzen. Einer dieser Neuen war Gerhard Hauptmann (auch ein Schlesier). Er brachte die Schicksale der „kleinen Leute“ auf die Bühne. Ein Auszug der Kritik von „Fuhrmann Henschel“: „Sobald die ersten Sätze des neuen Dramas gesprochen waren, fühlten die Hörer wieder das Wunder sich vollziehen: Mit einem Schlag merkten sie, dass hier ein „Anderer“ redet. Jemand, der ein Naturphänomen ist. Diese Tiefe und Sicherheit der Lebensbeobachtung, die uns verblüfft, dass wir lächeln, und die uns ergreift, dass wir ernst werden – man soll sie suchen heute, in der ganzen Welt! Für diese ganze Vorstellung bleibt nur ein Kennwort: einzig.
Hauptmanns Stücke verursachten auch Skandale. „Vor Sonnenaufgang“, durch die Darstellung von Alkoholismus und Sexualität auf der Bühne und „Die Weber“ mit der Darstellung der mörderischen frühkapitalistischen Arbeitsverhältnisse, die zu den schlesischen Weberaufständen führten. Das war das „Neue“ auf der Bühne, das Kerr wünschte und förderte. Einige Autoren, die ihn faszinierten waren Ibsen, Wedekind, Schnitzler, Strindberg, Shaw, Hofmannsthal. „Der Unterschied zwischen Ibsen und Zuckmayer ist nicht an Zuckmayer auszulassen“….doch er hat ihn einige Male fürchterlich verrissen. Aber als „Der fröhliche Weinberg“ aufgeführt wurde, schreibt Zuckmayer, seine Mutter saß im Publikum und stürzte in der Pause zu ihm hinter die Bühne und sagte nur: „Kerr hat zweimal gelächelt!“ Und es klang wie: „Der Scharfrichter ist erkrankt – die Hinrichtung ist verschoben.“ Und die Kritik vom „fröhlichen Weinberg“ ist hervorragend ausgefallen, und Zuckmayer war wirklich von einem Tag auf den anderen berühmt. Da sieht man die Macht. Vor dem berühmt-berüchtigten Kritiker zittern Autoren, ebenso wie Regisseure und Schauspieler: denn Kerr ist es prinzipiell völlig egal, wie prominent oder allgemein beliebt jemand auch sein mag. Er nimmt nie ein Blatt vor den Mund. „Ich sage, was zu sagen ist!“ „Ich sage die Wahrheit.“
Alfred Kerr besaß ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und war von großen persönlichen Mut wenn es um den Kampf gegen die Zensur, gegen das Schmutz-und Schundgesetz (das auch Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“ bekämpfte) und käufliche Musikkritiker ging. Er will die Integrität seines Berufsstandes verteidigen. Für ihn beruht jede Kritik auf Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Ehrlichkeit. Im Idealfall soll sie dazu beitragen, die gesellschaftlichen Verhältnisse gerechter zu gestalten. Unabhängig von künstlerischen Wertungen tritt er gemeinsam mit Brecht und anderen 1925 für Johannes R. Becher ein, als der in einem „künstlerischen Hochverratsprozess“ belangt wurde. Ansonsten hat er Brecht meist mit Verrissen überschüttet. Dieser dreißig Jahre jüngere Autor hatte ihm eine zu laxe Haltung zu geistigem Eigentum und war auf eine zu ungewohnte Art modern, ihn störte die Zusammenhanglosigkeit („Mann ist Mann“). Bestenfalls ein „Ja, das Talent sieht man, aber…“. „Ja, dann muss der Brecht wohl eine Hoffnung bleiben…“Kerr hat gesagt: „Der Brecht kann etwas nicht, was ich haben will. Der Brecht kann keine Menschen darstellen. Der macht immer nur Figuren, Denkfiguren.“ …und Lehrstücke…und Herbert Ihering (neben Kerr wohl der wichtigste Theaterkritiker der Weimarer Republik und sein „Antipode“, zwanzig Jahre jünger) hat gesagt: „Ich will Themen haben, Themen dargestellt haben – und es ist mir egal, ob das Menschen sind oder ob das Denkfiguren sind!“ Herbert Ihering übernimmt 1933 Kerrs Stelle als Chefkritiker des „Berliner Tageblatt“, als Alfred Kerr aus Deutschland flüchten muss. Ein besonderer Fall ist Robert Musil, ihn würden wir vielleicht ohne Kerr gar nicht kennen. Der junge, völlig unbekannte Musil wandte sich an Kerr mit der Erzählung „Törless“. Und Kerr hat sich mit ihm hingesetzt, ist jede Manuskriptseite durchgegangen, hat ihm einen Verlag gesucht und hat eine hervorragende, sehr berechtigte gute Kritik geschrieben. Alfred Kerr sah „die Kritik“ als vierte Kunstform neben der Dramatik, Epik und Lyrik. Er hat sie auch formal als Kunstwerk etabliert, und es ist so, wie er es wollte: sie sollte noch lesbar sein, wenn ihr Gegenstand verstaubt wäre. Es macht Spaß, diese Kritiken aus der Kaiserzeit zu lesen. Ein noch größeres Vergnügen bereiten seine „Briefe aus Berlin“. Sie erschienen zwischen 1895 und 1900 in der Breslauer Zeitung, eine Chronik der alltäglichen und weltbewegenden Ereignisse der Kaiserzeit. Es sind wunderbare Beobachtungen eines wahren Liebhabers seiner Stadt und ihrer Bewohner, was sie nicht davor schützt, mit Ironie und spitzer Feder karikiert zu werden, über den reichen Westen – etwa zwischen Reichstag und Bellevue- „Diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben.“ 1. Jan.1895 über die kleinen Fluchten aus Berlin… „Und über allem liegt dieser weißgraue märkische Himmel…und dicke, schwere sonntägliche Spießbürger mit geröteten Weißbiergesichtern und aufgedonnerten schweren Gattinnen stapfen über die Brücken und durch den reichlichen Sand, und holde Stimmen rufen: Aujust, sieh dir vor! „
Die Fluchten aus Berlin hat Alfred Kerr in seinen Reisebüchern zusammengefasst. Er hat jedes Jahr einige Monate im Ausland verbracht, er liebte das Reisen und hat seine Eindrücke auch in den „Briefen aus Berlin“ regelmäßig publiziert. Seine Kritiken erschienen in 5 Bänden 1917 bei Fischer „Die Welt im Drama“. Nach einer großen persönlichen Tragödie (wenige Monate nach der Hochzeit starb seine junge Frau 1918 an der spanischen Grippe, die er selbst auch nur knapp überlebte) brachten ihm seine 50iger Jahre ein großes Glück. Er heiratete die Komponistin Julia Weißmann, wurde Vater von zwei Kindern und wurde zu seinem 60. Geburtstag 1927 sehr gefeiert. Das waren noch einmal glückliche Jahre in Berlin, bevor am Ende der Zwanziger Jahre die Bedrohung durch die Nazis immer spürbarer wurde.
Neben den vielen Zeitungen und Zeitschriften, in denen Alfred Kerr publizierte, war er auch Mitherausgeber von Paul Cassirers 1910 neu gegründeter literarischer Zeitschrift „Pan“. Ab 1912 war er der Alleinherausgeber bis zur Einstellung 1915. In dieser Zeit, in der die „Moderne“ in allen ihren Richtungen (Jugendstil, Naturalismus, Symbolismus, Expressionismus….) nach neuen Publikationsmöglichkeiten suchte, entwickelten sich neue Medien wie Film und Rundfunk. Auch Alfred Kerr bedient sich zunehmend ab Ende der Zwanziger Jahre der Möglichkeiten des Rundfunks, anfangs in literarischen Sendungen, dann immer stärker politisch gegen die Nazis polemisierend…. „ Ich hatte, soweit ein armer Einzelner es kann, den schmierigen Nazismus mit Gedichten, Aufsätzen, Reden bekämpft, verhöhnt, belichtet, bei jedem Anlass… Deshalb hat mich Göbbels, die rührige Missgeburt, im „Angriff“ damals auf die schwarze Liste gesetzt – mit der Weisung: solche Leute (sechs namentlich benannt noch…) seien an die Wand zu stellen. … „ Ich ließ im Radio keine Gelegenheit aus, zu gemeinsamer Abwehr gegen drohende Knechtung aufzurufen …Aber da es Deutsche waren, spalteten sie sich…. Sie wurden im schwersten Unwetter nicht einig, wer die Luken schließen soll – die Luken blieben offen, der Dampfer ist ersoffen. Dann noch einmal ein Aufruf 1932 in aller Schärfe: Schwindel ohne Leistung ist Schwindel ohne Leistung…….das ist die N.S.D.A.P. Erlogene Versprechungen als Köder…das ist die N.S.D.A.P. Lasst euch von großsprecherischen Quacksalbern nicht dumm machen! Sie wollen nichts als die brutale Macht und eine Herrschaft blutigster Barbarei! Es ist und bleibt wahr: die N.S.D.A.P. wird von der Großindustrie ausgehalten. Man sucht erfolglos, das wegzulügen – und behauptet dreist, dass andere lügen! In Wahrheit wird diese „Arbeiterpartei“ von Arbeiterfeinden gefüttert. …Diese „Arbeiterpartei“ ist nachweislich mit abgebauten Monarchen verbündet, die vor 1914 großmäulig zum Krieg geschürt hat! Wollt ihr, das diese Sippe wieder ans Ruder kommt? …… die Herrschaft der N.S.D.A.P. bedeutet Krieg! Letztes Elend! Deutschlands Zerfall! Die S.P.D. hat ein verwundetes und zerrüttetes Land vor dem Untergang bewahrt. Sie hat den Krieg nicht gewollt, dessen furchtbare Folgen der Arbeiter heute zu tragen hat. Hitler ist ein zweiter Wilhelm – mit dem Wahlspruch: „Ich führe Euch herrlichen Pleiten entgegen!“ Die S.P.D. ist der Fels im Schlamassel der Kriegsfolgen. Wählt S.P.D. Alfred Kerrs Tochter: „Ich erinnere mich zum Beispiel daran, dass mein Vater regelmäßig im Radio sprach…Aber ich hatte keine Ahnung, dass man sein Leben bedroht hatte, und dass ihn deswegen jedes Mal ein Auto mit einem Bodyguard von zu Hause abholte und wieder heimbrachte.“ Schon kurze Zeit später im August 1932 nahm die NSDAP Einfluss auf den Rundfunk. Im Februar 1933, kurz vor der Reichstagswahl erhielt Alfred Kerr einen Warnung, dass sein Pass eingezogen werden sollte. Noch am gleichen Abend setzte er sich grippekrank in einen Zug nach Prag. Seine Familie folgte ihm noch am Tag vor der Wahl ins Exil.
Am 10.Mai 1933 wurden Alfred Kerrs Werke von den Nazis verbrannt und am 13. Mai wurde er vom Vorstand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler auf die Liste der Autoren gesetzt, deren Werke „ für das deutsche Ansehen als schädigend zu erachten“ seien. Seine gesamten Schriften standen in der ersten Liste des Börsenblatts der aus öffentlichen Bibliotheken auszusondernden Literatur. Im August 1933 wurde er ausgebürgert, die deutsche Staatsangehörigkeit wurde ihm aberkannt. Die für Alfred Kerr größere persönlichen Tragödie dieses verfluchten Jahres 1933 war die Zerstörung seiner Freundschaft zu Gerhart Hauptmann, der sich den Nazis andiente. Zu Hauptmann hatte er eine jahrzehntelange enge Freundschaft, die mit der großen Verehrung seines dramatischen Schaffens begann, das er mit begeistertem Engagement unterstützte. Noch im letzten Jahr der Weimarer Republik hatte er mehrere hervorragende Kritiken von Hauptmann-Stücken geschrieben. Mitte Oktober 1933 fand in München der „Tag der Kunst“ statt. Das neueste Stück von Hauptmann „Die goldene Harfe“ sollte auf Hitlers Wunsch uraufgeführt werden. Hauptmann kommt dem Wunsch des „Führers“ nach. Für Alfred Kerr bricht eine Welt zusammen. „Es gibt seit gestern keine Gemeinschaft zwischen mir und ihm …. Ich kenne diesen Feigling nicht….. Hauptmann schmeichelt dem Raubgesindel…..Der weltberühmte Dichter eines antikapitalistischen Dramas wurde durch Geld zur Strecke gebracht.“….Zum Glück kannte Alfred Kerr nicht die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass seines „Freundes“: „Ein Ghetto-Jude, ein Parasit, ein Lumpenhund, eine Bestie, ein Papier-Verbrecher, eine Schmeißfliege, ein kleiner Judas.“ Das waren die Äußerungen des sogenannten Freundes Gerhart Hauptmann in seinen Tagebüchern: (Kerr Biografin Deborah Vietor-Engländer). In der Zeit des Exils war es Kerr fast unmöglich, den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen. In der Schweiz hatte er keine Möglichkeiten zu publizieren und in Frankreich nur geringe (er beherrschte völlig die französische Sprache und schrieb auch für den „Figaro“, „Le Temps“ und für Exilzeitschriften, aber die Situation blieb prekär. Mit seiner Tochter erkundete er Paris und zeigte ihr die Schönheit der Stadt, und ihr Ausruf… „ist es nicht herrlich ein Emigrant zu sein!“…zeigt, das es doch zuweilen möglich war, das Leben trotz alledem zu genießen. Der Verkauf eines Drehbuchs ermöglichte 1935 die Übersiedlung nach London.
1938 wurde Alfred Kerr Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbundes. Von 1941 bis 1946 war er Präsident des Deutschen P.E.N.-Club im Exil in London, ab 1946 bis zu seinem Tode Ehrenpräsident. Aber beruflich Fuß fassen kann er im Exil nicht mehr : „Nicht das Abenteuer war das Schlimmste, sondern das Abenteuerlose jetzt. Die Stauung. Ein menschliches Wachsfigurenkabinett in London im Hotel. Erst alles das brachte jenes schmerzhafte Leersein – das schmerzhafter als Schmerz ist.“ Dieses Emigrantenhotel wird mehrfach bei deutschen Luftangriffen beschädigt, aber die Familie kommt immer mit den Schrecken davon. In ihren autobiografischen Schriften schildert Judith Kerr immer wieder, wie es dem Vater gelingt, trotz eigener Depressionen, die Tochter und die Frau zu trösten. Der Sohn Michael war in dieser Zeit Pilot bei der britischen Luftwaffe. Er hätte soviel Glück in seinem Leben gehabt, und alle wären sie noch beieinander, das wäre ein großes Geschenk. Auch sein Humor scheint ein besonders resistenter gewesen zu sein: seine neckischen Gedichte zu „höheren Geburtstagen“ zeugen davon. Siebzig Jahre (1937) im Zeitenstrom tanzt ein Atom. Hat manche Lust empfunden in siebzig Traumsekunden. Bevor es in das All versank, winkst du ihm zu …Hab Dank. Hab Dank. – Achtzig (1947). Hab Dank. Ich harre unbeirrt auf manches, was jetzt kommen wird. Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; Vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen. In seinem achtzigsten Jahr erhält Alfred Kerr auch die britische Staatsbürgerschaft: Shaw war mein „Sponsor“, mein Pate für die Einbürgerung in England – und als ich ihm damals mein Alter angab, war seine Antwort mit einem entzückenden, treuherzigen Stolz: „I am ninety!“ Ich fühlte mich überflügelt- und wie ein Anfänger. Seit 1945 schreibt Alfred Kerr wieder für deutsche Zeitungen ( „Die Welt“ und „Die Neue Zeitung“) . Er wird im Herbst 1948 nach Deutschland eingeladen und fliegt zum ersten Mal in seinem Leben. Nach seiner Ankunft in Hamburg macht er eine Hafenrundfahrt und geht ins Theater (Romeo und Julia), nach 15 Jahren zum ersten Mal in einem deutschen Theater. In der Nacht hat er einen Schlaganfall. Als man ihn am nächsten Morgen fand, sagte er angeblich: „Das Stück war schlecht- aber so schlecht auch nicht .“ (Deborah Vietor-Engländer). Mit den Folgen des Schlaganfalls, einer halbseitigen Lähmung, möchte Alfred Kerr nicht weiter leben. Er beendete sein Leben, so wie er es schon sehr viel früher mit seiner Frau für eine solche Situation beschlossen hatte. In einem letzten Brief an seinen Sohn Michael schrieb er: „Ich habe das Leben sehr geliebt, aber beendet, als es zur Qual wurde.“
Bücher / Quellen
Alfred Kerr „Ich sage, was zu sagen ist“ (Theaterkritiken, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998).
Alfred Kerr „Wo liegt Berlin?“, Briefe aus der Reichshauptstadt, 1895-1900“ Siedler Taschenbücher Berlin 1999,
Alfred Kerr „Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?“ (Briefe eines europäischen Flaneurs). btb Taschenbücher 2001,
Alfred Kerr „Mein Berlin, Schauplätze einer Metropole“ Aufbau-Verlag, Berlin 1999,
Alfred Kerr „Lesebuch zu Leben und Werk“ Argon Verlag Berlin 1987,
Judith Kerr „Eine eingeweckte Kindheit“ Argon Verlag Berlin 1990,
Judith Kerr „Geschöpfe, Mein Leben und Werk“ Edition Memoria 2018,
Judith Kerr „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ Ravensburger Taschenbücher 1980,
Judith Kerr „Warten bis der Frieden kommt“ Ravensburger Buchverlag Otto Maier 1987.
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biografie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016,
Deutschlandfunk Kultur „Ich sage, was zu sagen ist – Die zwei Gesichter des Alfred Kerr“, Sendung vom 29.12.2018, Reihe Zeitfragen ( Hintergrund Kultur und Politik)
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