Zerstörung des Dritten Tempels?

The Destruction of Jerusalem in 70 AD, engraved by Louis Haghe 1806-85. Gemeinfrei.

In diesen Tagen beschäftigt sich der Oberste Gerichtshof in Israel mit den zahlreichen Eingaben, die sich gegen die zum Teil schon beschlossen entscheidenden Veränderungen im Rechtssystem des Landes richten. In der Summe werden diese Gesetze die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts in Frage stellen und gleichzeitig die einzige legale Kontrolle der Exekutive ihrer Funktion berauben. Israel hat keine Verfassung und in seinem staatlichen Aufbau auch keine zweite Kammer des Parlamentes.

Diese Situation hat zu einer tiefen Beunruhigung der israelischen Öffentlichkeit und in der weltweiten jüdischen Diaspora geführt:

So denkt Yuval Noah Harari in Haaretz über die Zerstörung des Dritten Tempels, der israelischen Demokratie, nach. Er fürchtet die Vertreibung der säkularen Juden aus Israel und hält in der Folge eine neue Grundsatzdiskussion zwischen Bundisten und Zionisten für möglich, wobei die Haredim jetzt den religiösen Zionismus vertreten.

In der Washington Post kommen Stimmen zu Worte, die eine Verbindung zwischen den monatelangen öffentlichen Protesten gegen die Netanyahu-Regierung und den Bedingungen der weiterhin bestehenden militärischen Besetzung des Westjordanlandes und den Menschenrechten der Palästinensern herstellen.

In seiner Not appelliert Thomas L. Friedman in der New York Times in seinem Kommentar an Präsident Biden, konsequent auf allen Ebenen seinen Einfluss auf die derzeitige israelischen Regierung gelten zu machen, um die Interessen der amerikanischen Außenpolitik und der israelischen Gesellschaft zu wahren.

Im Guardian formuliert Bethan McKernan knapp zur Lage der aktuellen israelischen Politik:

The proposals have split Israel along lines of religion, ethnicity and class, thrown the military into chaos, damaged the shekel, and led to public concern for the country’s democratic health from key allies such as the US.

Die Schweizer Wochenschrift Tachles berichtet in diesem Zusammenhang von einem Offenen Brief des Historikers Omer Bartov zur Situation im besetzten Westjordanland. Diesem Brief haben sich in Kürze 1500 Persönlichkeiten aus Forschung und Lehre angeschlossen.

Das Außergewöhnliche der Situation wird aber durch einen Dialog unterstrichen, der vor einigen Wochen in der New York Times geführt wurde, und zwar zwischen Ronald S. Lauder als Präsident des World Jewish Congress und zivilgesellschaftlichen Stimmen aus Israel. So forderte Lauder ein gemeinsames Vorgehen der israelischen Politikern Gantz, Lapid und Netanyahu, um die augenblickliche Staatskrise einer einvernehmlichen Lösung näher zu bringen. Damit würden sie auch ihre Verantwortung gegenüber dem weltweiten Judentum wahrnehmen. Gegen diesen Vorschlag grenzte sich scharf ein Zusammenschluss aus der Israelischen Zivilgesellschaft ab, der Netanyahu wegen seiner strafrechtlich relevanten Anklagen nicht mehr als Gesprächspartner akzeptiert. Den offenen Brief in diesem Zusammenhang unterzeichneten unter anderem die ehemaligen IDF-Stabschefs Moshe Yaalon und Dany Haloutz, der ehemalige Geheimdienstdirektor Tamir Pardo, der ehemalige Bildungsminister Yuli Tamir sowie Geschäftsleute, ehemalige Militärs und frühere israelischen Spitzenbeamte.

Aktuell berichtet die Schweizer Wochenschrift Tachles, dass die Anhörung abgeschlossen sei und das Oberste Gericht Israels in die Beratungen eingetreten ist. Dabei wird es lebhafte Diskussionen geben, denn auch unter den Richterinnen und Richtern bestehen deutliche Meinungsunterschiede. Das zweifelhafte Plädoayer des Regierungsanwaltes Bombach wird aber kaum Zustimmung bei ihnen finden.

 . . . .dass die Mehrheit den Willen des Volkes repräsentiere und deswegen die Regierung das Recht hätte, sozusagen mehr oder weniger das zu tun, was sie tut, abgesehen davon also, dass diese «Interpretation» von Demokratie den entscheidenden Part auslässt, wie etwa die Wahrung der Rechte von Minderheiten in einer Demokratie, ist der sogenannte Mehrheitswille nicht automatisch identisch mit demokratischen Grundprinzipien. Man kennt das aus der Geschichte. Wie oft wurden Autokraten und Diktatoren demokratisch gewählt? Haben auch sie dann den «Volkswillen» umgesetzt – wie sie übrigens stets behaupteten? Denn genau darum geht es ja immer und immer wieder: Um die Wahrung von «Checks and Balances», um die Wahrung der Gewaltenteilung, also eben die freiwillige Beschränkung von Macht, um demokratisch zu bleiben.
Bombach tat noch etwas. Er nannte die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, dieses liberale Gründungspapier, das den Charakter Israels als jüdisch und demokratisch und liberal festlegt, ein «hastig» geschriebenes Statement von 37 Leuten. Das könne ja nun wahrlich nicht die Basis für Entscheidungen des Obersten Gerichts heute sein.

Nach Ansicht von Tachles ist im Augenblick in der israelischen Opposition keine Führungspersönlichkeit auszumachen. Aber für den Fall, dass das Gericht das betreffende Gesetz ablehnt, sind folgende Vorhaben unabdingbar anzugehen:

Nein, der Staat muss eine neue Demokratie entwickeln. Bessere «Checks and Balances», eine Verfassung, das Ende der Besatzung, all diese Dinge werden seit Wochen und Monaten diskutiert. Unabhängig davon, ob und wie solche Reformpläne dann tatsächlich durchgesetzt werden könnten, ist eine Frage virulenter: Wer könnte das umsetzen? Wo ist die politische Führungsfigur, die die Kraft, die Vision, das Charisma hat, diese unglaubliche Aufgabe erfüllen zu können? Wie kann eine Gesellschaft vereint werden, die sich an so vielen Nahtstellen zutiefst hasst, ja wirklich: hasst. Orthodoxe gegen Säkulare, Linke gegen Rechte, Misrachim gegen Aschkenasim, Juden gegen Araber. Und das sind nur die gröbsten Trennlinien in der israelischen Gesellschaft.

Es bleibt zu hoffen, dass in diesem Fall die Regierung Netanyahu den Richteranspruch akzeptiert und nicht Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen im Land gibt. Dann würden sich wahrscheinlich alle Blicke auf die israelische Armee richten.
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