Wie Christen das Judentum erfanden

Tomer Persico setzt sich in Haaretz vom 27.06.2019 mit der Auffassung von Daniel Boyarin vom Verhältnis Christentum zu Judentum auseinander. Boyarin gilt als einer der profundesten Talmudgelehrten der Gegenwart.
Vom Selbstverständnis eines Hopi, Rom oder Drusen ausgehend beschreibt Persico die westliche, protestantisch geprägte Sicht, Menschen nach Nation und Religion einzuteilen. Beide Bereiche, häufig zum Zeitpunkt der Geburt festgelegt, bleiben voneinander getrennt, wie Jesus es auf die Frage nach Berechtigung der kaiserlichen Steuer erklärt. Damit läßt sich aber der Begriff des Judentums kaum fassen. Immer wieder versuchen sich Interpreten an einer befriedigenden Beschreibung.
Daniel Boyarin hat es zuletzt in seinem Buch “Judaism: The Genealogy of a Modern Notion” (Rutgers University Press) versucht, in dem er sich dem Thema aus unterschiedlichen Richtungen nähert. Aus jüdisch-rabinischer und aus christlicher, aus der Zeit des Zweiten Tempels und aus heutiger. Er stellt fest, daß der Begriff des Judentums von der Frühzeit bis ins Mittelalter nicht existiert. Weder findet er sich in der Thora, bei den Propheten noch in den Schriften des Talmud, der Mishna oder bei den frühen Religions-lehrern. Erst im 12. Jahrhundert verwendet Rabbi Menachem Ben Shlomo ihn um die Existenz einer „jüdischen Person“ zu beschreiben.
Boyarin untersucht den Begriff in verschiedenen sprachlichen Zusammen-hängen und kommt zum Schluß, daß Judentum kein jüdischer Begriff sei. Er stammt stattdessen aus dem Christentum und erlaubt eine Abgrenzung in der Religion. Er wird im Folgenden mit einer ethnischen Zugehörigkeit und besonderen Gesetzen und Bräuchen in Zusammenhang gebracht. Im 16. Jahrhundert befestigt er sich allmählich als eine religiöse Zuordnung. Bis in das 19. Jahrhundert gibt es über den Begriff des Judentums keine Auseinandersetzung. Erst mit dem Aufkommen einer liberalen und einer orthodoxen Auffassung vom Judentum werden eine Definition des Begriffs und eine gegenseitige Abgrenzung notwendig.
In der Folge ähnelt die jüdische Tradition zunehmend mehr der christlichen, sie integriert sich selbst in die moderne westliche, eben christliche Welt. Dabei hat das Christentum von Anfang an das Judentum als das fundamental „Andere“ begriffen. Auch wenn es die Gesetze der Halacha gibt, gewinnt das Judentum doch vor allem erst durch die Betrachtung der Christen Konturen. Mit der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert verhalf ihnen der Begriff der jüdischen Religion, sich in die entstehenden Nationalstaaten zu integrieren. So gab es jetzt beispielsweise einen Deutschen mosaischen Glaubens. Damit ging aber auch die Auffassung von der Jüdischkeit, als einem umfassenden Lebenskonzept verloren. Auch wenn es heute noch diese traditionelle Auffassung vom jüdischen Leben, vornehmlich unter den ehemals nordafrikanischen Juden, gibt, so führt kein Weg in die Vergangenheit zurück.
In einem Gespräch zwischen Boyarin und Persico bewertet ersterer als eindeutiger Kritiker des Zionismus das Leben in der Diaspora als das authentischere und lebenswertere. In seiner Vorstellung begegnen sich hier die lebendige jüdische Gemeinschaft mit anderen Gruppen in einem gemeinsamen Projekt. Dazu ist aber als Voraussetzung ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbar. Die christliche, vorzugsweise paulinische Auffassung vom Menschen als in erster Linie eigenständigem Wesen führt letztendlich zu einer menschenfreundlichen Lebensauffassung, die auch Juden ein sicheres und gedeihliches Leben ermöglicht. Oder ist er als Jude doch eher in eine nicht wählbare Gemeinschaft hineingeboren, die sein weiteres Leben festlegt?
Im Folgenden kreist das Gespräch um die Frage, was letztendlich das Leben eines Juden bestimmt, die Auffassung, dass alle Menschen gleich sind und unveräußerliche Rechte besitzen. Eine christliche Auffassung vom Menschen, der eine umfassende Daseinsberechtigung und einen freien Willen besitzt. Oder reichen die physische Ähnlichkeit der Menschen und ihre Fähigkeit zu sprechen für ein gemeinschafts-verträgliches Verhalten? Unbestritten fordert aber die westliche, protestantisch bestimmte Welt weitere Anpassung vom Judentum wie auch von anderen Gruppen. Eine umfassende, ja imperiale Forderung, die aber Menschenrechte und die Sicherheit einer zivilen Rechtsordnung bringt. Etwas, was traditionelle Gesellschaften nie zusichern können. Im Bewußtsein, dass dieser Weg die ursprüngliche Jüdischkeit weiter verändern wird, werden Juden ihn wohl zwangsläufig weitergehen.

Diese Entwicklung scheint auch nach der Beobachtung des 1. Jüdischen Zukunftskongress im letzten Jahr nicht umkehrbar zu sein.
art-