Der Holodomor – weiterhin unvergessen.

Gedenkgottesdienst der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in Sydney, St Andrew’s Cathedral am 28. Juni 1953. Erinnerung an die Millionen toten Ukrainer als Folge des Holodomor. Forograf Very trivial. Unter CC BY-SA 3.0.

Zum ersten Mal erfuhr ich vom Geschehen des Holodomor 1962. Wir waren als Schüler auf einer Radtour bei einem bayrischen Bauern in der Scheune untergekommen. Auf der Wiese hinter dem Anwesen hatten Exil-Ukrainer ein Lager aufgebaut und uns zum Abendessen eingeladen. In den Gesprächen erfuhren wir dabei von den schrecklichen Ereignissen der Jahre 1932 und 1933. Damals seien Tausende von Menschen in den ukrainischen Dörfern, oft auf den kalten Öfen hockend, schließlich am Hunger gestorben. Das zweite Mal begegnete mir 2004 der Holodomor auf einer Reise durch die Ukraine. Er war dort in den Erzählungen der Einheimischen weiterhin sehr gegenwärtig. Gestern hat ihn der Deutsche Bundestag nach vielen anderen Staaten ebenfalls als Völkermord anerkannt, als ein bis heute ungesühntes Menschheitsverbrechen.

Nüchtern und sachlich hat das Gerhard Simon, ein deutscher Historiker und Slawist, auf der Tagung „Holodomor 1932-33. Politik der Vernichtung“ in Mannheim 2007 beschrieben:

Der Holodomor als eine der größten humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts war in der Sowjetunion weitgehend mit einem Tabu belegt. Erst über fünfzig Jahre später nach ihrer Auflösung wurden Details bekannt und dienten der Ukraine nach ihrer Selbstständigkeit 1991 zur Konsolidierung ihrer Nation.

Ein Kreuz in Kyiv. Kerzen zum Gedenken an den Holodomor am 1. Januar 2003.
Fotograf nicht bekannt. Unter CC BY-SA 3.0.
Trauerprozession in Erinnerung an den Holodomor. München 2008.
Fotograf Andrij Nesmachny. Unter GFDL.

1926 zählte die Ukraine 26 Millionen Einwohner. Ca 3,5 Millionen Menschen wurden Opfer der Hungersnot, vorwiegend in Dörfern der Gebiete um Kiew und Charkiv. 80 Prozent der Hungeropfer waren ethnische Ukrainer. Außerhalb der Ukraine waren vor allem der Kuban im Nordkaukasus mit seiner Bevölkerungsmehrheit von Ukrainern und und ukrainischen Kosaken betroffen, aber auch zwei Millionen der kasachischen Bewohner in den Steppenregionen.

Die sowjetischen Behörden verboten von Anfang an die Dokumentation der Hungertoten. Die Ergebnisse der Volkszählung 1937 wurde zum Staatsgeheimnis erklärt und die leitenden Mitarbeiter der Volkszählung verschwanden in Straflagern.

Bereits die ersten Hungeropfer gab es Anfang 1932 nach einer Missernte im Vorjahr. Nach einer ebenfalls geringen Getreideernte 1932 entwickelte sich die Katastrophe des Holodomor im Herbst und Winter bis zum Höhepunkt im Juni 1933. Erst die Ernte im Sommer 1933 konnte den Hunger beenden.

Ein „Roter Zug“ auf dem Weg von der Kolchose „Woge der Proletarischen Revolution“
aus Oleksiyivka, Kharkiv oblast in 1932.
Diese Roten Züge transportierten die erste Ernte der Saison in die staatlichen Speicher. Während des Holodomor, der durch die Sowjetregierung ausgelösten Hungersnot, waren diese Transportbrigaden Teil der Zwangsrequirierung der Ernte bzw der bäuerlichen Lebensmittel. Central State Audiovisual Archives of Ukraine. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei.
An der rot-schwarzen Tafel in der Kolchose Molody. Erstellt: 1. Januar 1933.
State museum of political history of Russia. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei.
Das Gemüse der Einwohner des Dorfes Novo-Krasne im Odessa Oblast wird beschlagnahmt.
Ukraine November 1932. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei.

Nur durch die massiven Eingriffe der Sowjetregierung in das wirtschaftliche Gefüge der „Kornkammer Europas“ sind diese Geschehnisse zu erklären. Die ukrainischen Bauern wurden in Kolchosen gezwungen und gleichzeitig mit unerfüllbar hohen Ablieferungen belastet. Da die Bauern nicht wie geplant liefern konnten, wurde die gesamte Getreideernte zwangsrequiriert. Und als die Bauern ihre restlichen Lebensmittel verzehrt und auch das Vieh geschlachtet und aufgegessen hatten, blieb ihnen nur noch der Hungertod übrig.

Opfer des Hungers. Oblast Charkiw, 1933. Foto aus der Sammlung von Kardinal Theodor Innitzir (Archiv der Diözese Wien). Fotograf Alexander Wienerberger. Zur Verfügung gestellt von Prof. Vasyl Marochka (Institut für Geschichte der Ukraine,
Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine).
Quelle Central State Cinema-Photo-Phono Archive of Ukraine benannt nach H. S. Pshenychny. Gemeinfrei.

Aus sowjetischer Sicht stellten die Bauern nur die zweite Klasse der Gesellschaft dar und dienten deshalb mit ihren Einkünften dazu, die Industrialisierung aufzubauen. So wurde auch während der Hungersnot ein erheblicher Teil der Getreideernte auf dem Weltmarkt verkauft.

„Die Anteilnahme schwindet.“ Aufnahme 1933 Kharkov. Foto aus der Sammlung von Kardinal Theodor Innitzir (Archiv der Diözese Wien). Fotograf Alexander Wienerberger. Aus der Publikation ‚Muss Russland Hungern?‘ Herausgeber Wilhelm Braumüller, Wien 1935. Ebenfalls: Famine-Genocide in Ukraine, 1932-1933: Western Archives,
Testimonies and New Research / Edited by Wsevolod W. Isajiw.-
Toronto: Ukrainian Canadian Research and Documentation Centre, Toronto, 2003.
Quelle Central State Cinema-Photo-Phono Archive of Ukraine benannt nach H. S. Pshenychny. Gemeinfrei.

Den Grund für die Hungersnot suchte die Sowjetmacht bei den Kulaken. Aber auch mit größter Brutalität ließen sich die gesuchten Lebensmittelmengen nicht bei den Großbauern finden. Pressemeldungen aus den USA über die Hungersnot wurden als feindliche Propaganda zurückgewiesen, Hilfsmaßnahmen für die ukrainischen Bauern als unbegründet abgelehnt.

Titelseite der Chicago American / American Hearst press vom 25. Februar 1935. Fotograf unbekannt, Gemeinfrei.

Weitere Maßnahmen der Regierung verschärften die Hungersituation in der Ukraine und im Nordkaukasus noch zusätzlich. Kolchosbauern, die die vorgeschriebene Getreidemenge nicht liefern konnten, wurden mit einer extrem hohen Fleischablieferungsquote und dem Einzug ihrer restlichen Lebensmittel bestraft. Sämtlicher Handel, also auch die Lieferung von Lebensmitteln, wurde in diesen Gebieten eingestellt und die Ausreise der Bevölkerung verboten. Hamsterfahrten in die Nachbargebiete zum Überleben waren damit unmöglich gemacht. Sogar der Verkauf von Eisenbahnfahrkarten war verboten.

Mykhailo Mykhalevych. Postkarte „Brot!“, 1933

In ihren Verlautbarungen machte die Sowjetregierung dabei deutlich, dass sie den Hunger als Waffe gegen die ukrainischen Bauern einsetzte, so wie sie auch die intellektuelle ukrainische Elite und weite Teile der ukrainischen KP liquidierte, um den ukrainischen Nationalismus auszurotten.

Diese ethnische Säuberung entspricht der Definition der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen.
Die politische Anerkennung als Genozid folgte aber nur langsam und zögernd. Der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine hat jetzt diese Anerkennung beschleunigt.
TOL