9.11.2021 – Demonstration in Moabit

Am 9. November dieses Jahres jährte sich die Reichpogromnacht 1938 zum 83. Mal. Wie in den vergangenen Jahren zuvor hatte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) auch dieses Mal eine Demonstration durch Moabit organisiert. Startpunkt um 18 Uhr war das Deportationsmahnmal in der Levetzowstraße: Hier gab es eine Kundgebung mit zahlreichen Rede- und Musikbeiträgen. Zudem konnten die Teilnehmenden neben der in den Boden eingelassenen Betonplatte, die alle einstigen Berliner Synagogen abbildet, von den Veranstaltern bereitgestellte Blumen und Kerzen niederlegen.

Synagoge Levetzowstraße, Gemeindeblatt Jüdische Gemeinde Berlin, 1914.

Vor den versammelten Demonstranten sprach unter anderen der deutsch-jüdische Journalist Horst Selbiger. Er überlebte in Berlin die Herrschaft der Nationalsozialisten. Erfreut äußerte er sich darüber, dass die Anwesenden nicht den Mauerfall feierten, der sich am selben Tag im Jahr 1989 ereignete, sondern zusammengekommen waren, um an die Verbrechen des Dritten Reiches zu erinnern. Selbiger wies in seiner Rede darauf hin, dass die Verantwortung für die Pogrome nicht nur wenigen, sondern der ganzen deutschen Gesellschaft zufiel: Zwar waren die Gewaltakte der Reichspogromnacht von der NS-Führung zentral angeordnet worden, doch es habe der Massenloyalität mit der Diktatur gebraucht, damit diese ohne Behinderungen ausgeführt werden konnten. Etwa 1300 – 1500 Juden und Jüdinnen starben während der Ausschreitungen oder unmittelbar in deren Folge. Nach dieser Nacht 1938 glaubten viele, so Selbiger, dass es eigentlich nicht schlimmer kommen könne. Rückblickend bezeichnet er die Pogrome als „die Katastrophe vor der Katastrophe.“

Ein Redner aus Hamburg erinnerte an die dieses Jahr im Juni verstorbene deutsche Jüdin Esther Bejerano, geborene Loewy, die das KZ Auschwitz-Birkenau überlebt hatte. Bejerano spielte Akkordeon im so genannten Mädchenorchester von Auschwitz, das täglich zum Marsch der Kolonnen durch das Arbeitstor aufspielen musste. Nach einem Aufenthalt in Israel ließ sie sich 1960 mit ihrer Familie in Hamburg nieder. Noch bis kurz vor ihrem Tod war sie gesellschaftspolitisch aktiv gewesen: Sie hatte sich unter anderem beim VVN-BdA engagiert sowie regelmäßig Schulen besucht, um dort ihre Geschichte zu erzählen. Selbst im fortgeschrittenen Alter nahm sie regelmäßig an Demonstrationen gegen Nazi-Aufmärsche teil.

Ein Vertreter der Autonomen Antifa rief den Zuhörenden den Historikerstreit von 1986/87 in Erinnerung: Damals stellte der nationalkonservative Historiker Ernst Nolte die historische Singularität der Shoah in Frage. Der Philosoph Jürgen Habermas bezeichnete damals Noltes Äußerungen als Versuch, die Deutschen von ihrer besonderen historischen Verantwortung zu befreien.
Dass nun in diesem Jahr der australische Historiker und Genozidforscher A. Dirk Moses die Annahme der Singularität der Shoah missbilligend als einen „Katechismus der Deutschen“ bezeichnete, hatte einen neuen Historikerstreit ausgelöst, so der Redner. Moses hatte das Gedenken an den Massenmord in Deutschland eine „Staatsideologie“ genannt, die andere deutsche Verbrechen, etwa während der Kolonialzeit, verharmlose. Der deutsche Historiker Götz Aly hatte sich daraufhin (neben anderen) gegen Moses positioniert: Auch wenn es auch in der Kolonialzeit brutale Massenverbrechen gegeben habe, so sei dies nicht wegen eines totalitären Rassenwahns und nicht mit den hochtechnologischen Methoden der Nazis geschehen.

Nachdem alle Rednerinnen und Redner gesprochen und ein Männerchor sowie ein Duo aus einer Klarinettistin und einem Percussionisten mehrere Lieder vorgetragen hatten, setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Die Route führte in diesem Jahr zum ersten Mal auch an der Gedenkstätte am ehemaligen Gleis 69 vorbei. Endpunkt war das Deportationsmahnmal auf der Putlitzbrücke in der Nähe der U- und S-Bahnstation Westhafen. Dort gab es noch eine Abschlusskundgebung.
l-k