Medizinstudenten in Göttingen haben mit Sicherheit ihre Anatomie-, auf jeden Fall ihre Embryologie-Vorlesungen in den 60iger und 70iger Jahren im Gedächtnis behalten. Die Vorlesungen wurden von Prof. Erich Blechschmidt geradezu zelebriert. Dazu gehörte auch eine ganz eigene Nomenklatur, die durchaus der aktuellen Rechtschreibung widersprechen konnte. Besonders stolz war Blechschmidt auf seine Sammlung embryologischer Modelle, die er auf der Grundlage von zahllosen histologischen Schnitten hatte anfertigen lassen. Sie stellte die vorgeburtliche Entwicklung des Menschen entsprechend der ersten acht Schwangerschaftswochen im Modell dar – eine eindrucksvolle Sammlung -, die auf einer jahrelangen, sicher mühseligen Arbeit beruhte. Die Studenten waren beeindruckt, haben aber zumindest in dieser Zeit nie nachgefragt, woher denn die vielen Embryos stammten, die Blechschmidt dafür benötigt hatte.
Irgendwann müssen dann doch einmal die Fragen laut und nicht mehr überhörbar geworden sein. So hat sich Ende 2017 der Medizinhistoriker Dr. Michael Markert daran gemacht, Forschungen zur Herkunft der Embryos anzustellen. Das Göttinger Tageblatt schrieb darüber im März 2018 einen Zwischenbericht. Große Lücken bei der Dokumentation hat Markert besonders in den Anfängen von Blechschmidts Tätigkeit vom Jahr 1942 an feststellen müssen. Besonders bei Material aus der Göttinger Universitäts-Frauenklinik und aus der Pathologie sei die Dokumentation ausgesprochen dürftig gewesen. Vergleichbare Forschungsprojekte aus den USA weisen dagegen umfängliche Begleitdokumentationen auf, die keine Frage offen lassen, und damit dem auch damals geltenden wissenschaftlichen Anspruch genügten. Da Blechschmidt als SA-Mitglied (seit 1933) in der Zeit des Nationalsozialismus über 200 Leichen aus Wolfenbüttel (?) bekommen habe, steht der Verdacht weiterhin im Raum, daß zumindest ein Teil der Embryos auf fragwürdige, wenn nicht unrechtmäßige Weise in die Anatomie der Universität Göttingen gelangt seien. Auch wenn Markert bis jetzt keine Hinweise auf verfälschte oder unterschlagene Dokumente gefunden hat, sollte der Sammlung Blechschmidt zumindest eine Erklärung über den weiterhin unklaren Hintergrund ihrer Entstehung beigefügt werden. Das ist sie Lehrenden und Studierenden aus ethischen Gründen und Gründen der eigenen Glaubwürdigkeit schuldig.
Der Abschluß der Untersuchung im Juli 2019 hat letztendlich die oben geäußerte Einschätzung nicht widerlegen können und schlägt deshalb eben auch entsprechende Hinweise für die Sammlung vor Ort und auf entsprechenden Websites vor.
Bis Anfang Oktober 2019 ist auf der entsprechenden Website der Universität Göttingen noch kein entsprechender Hinweis zu finden.
Bei Recherchen zu verbrecherischen Versuchen an Menschen im Dritten Reich mußte ich feststellen, daß eine Mitarbeiterin von Otmar von Verschuer, dem Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Karin Magnussen, in solche verwickelt gewesen war. Sie forschte zur Heterochromie von Augen und erhielt dafür von Dr. Josef Mengele Augen von Zwillingen, die von Kindern aus Auschwitz stammten. Ein Teil dieser Augenpräparate fand sich nach Magnussens Tod 1997 in ihren Hinterlassenschaften. Magnussen hatte nach dem Krieg unbehelligt noch viele Jahre in Bremen als Lehrerin gearbeitet und wurde wegen ihres interessanten Biologieunterrichts geschätzt.
TOL-