Die Architektur und der Mythos – des Marktes oder der Geschichte?

Zur Zeit zeigt der Neue Berliner Kunstverein die interessante Ausstellung „1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin“ verbunden mit einer eben so interessanten Veranstaltungsreihe. Das Thema der ersten Veranstaltung lautete „Mythos des Marktes“ dazu gehörten Schüschkes „Kartografie der Privatisierung“ sowie im Hintergrund Andrej Holms „Glossar der Privatisierung“.
Auf eine kurze Formel gebracht erfuhren die Zuhörer, dass Berlin seit 1989 insgesamt ca. 21 qkm öffentlichen Grund und Boden privatisiert hat. Das entspricht annähernd der Fläche des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Die vielfältigen Folgen gesellschaftlich, wohnpolitisch, stadtplanerisch verspüren wir heute mehr als als deutlich.

Am 26. September fand die Veranstaltung unter dem Motto „Mythos der Geschichte“ statt. Die Ankündigung der Teilnahme von Adrian von Buttlar ( Kunsthistoriker an der TU Berlin und langjähriges, streibares Mitglied des Denkmalrates Berlin), von Michael Falser ( sein ehemaliger Doktorand, jetzt Architekturhistoriker in Heidelberg ), Verena Hartbaum (Architekturtheoretikerin aus Stuttgart, letzte Veröffentlichung zu dem Thema in Arch+ Heft 235) und Daniel Polser ( Künstler aus Berlin) ließ zurecht einen spannenden Abend erwarten. Unter der kundigen Moderation von Anh-Linh Ngo, dem Mitherausgeber von ARCH+, nahmen die Zuhörer an einer interessanten Reise durch die Berliner Baugeschichte nach dem Mauerfall teil.

von links: D.Polser, V. Hartbaum, M.Falser, A.v.Buttlar, Anh-Linh Ngo

Nach der Wende stellten sich für Politik, Stadtplaner und Architekten grundsätzliche Fragen, die im weiteren Verlauf erst sehr zögernd beantwortet wurden. An welchem Punkt der Geschichte sollte die Stadtentwicklung und der Stadtumbau ansetzen: 1933, 1939, 1989? Anfangs war die Diskussion nach Falser noch offen : Rogers verteidigte den Erhalt des öffentlichen Raums, Flierl schlug einen Stadtvertrag vor, Hoffmann-Axthelm wollte dringend die unerträgliche Leere des Stadtraums beseitigen. Stadtentwicklungssenator Hassemer gründete das Stadtforum und suchte Akteure, Bausenator Strieder forderte den Stadtbürger, während sich Landeskonservator Engel (+) Apostel wünschte.

Michael Falser

Die folgende Privatisierung städtischer Flächen schaffte lukratives Wohneigentum für die Gutverdienenden, die neuen Stadtbürger. Der Pluralismus des Denkmalschutz wurde unter dem Motto „Schönheit ist das Maß für den Denkmalschutz“ deutlich eingeschränkt. Mit Stimmann fand die „Revolution rückwärts“ statt, die Vergangenheit sollte aus der Perspektive der Zukunft rekonstruiert werden – der Zuhörer assoziierte Zemeckis Film „Zurück in die Zukunft“, das war aber nur eine Science-Fiction -.
Die Blockrandbebauung und die Traufhöhe von 22 Metern sollten die historische Innenstadt heilen. Stattdessen entstanden Baukörper mit drei Tiefgeschossen und zwei Dachgeschossen und einer hohen Bebauungstiefe, die in keiner Weise der ursprünglichen Bebauung entsprachen. Hier wurde eine Entwicklung und eine Strategie deutlich, die Falser als Neo-Mythen des Stadtumbaus beschreibt. Flier sprach von „Planwerk-Propaganda“ und Kohlhoff erfand die Erzählung von der Berliner Architektur.
Kritik wurde als Ostalgie abgetan, Berlin wurde schlimmste Diskontinuität bescheinigt und eine gewachsene Bürgerschaft abgesprochen. Vorschnell wurde der Triumph über den realen Sozialismus bekanntgegeben. Der Abriß des Palastes der Republik („selektiver Rückbau“) war zwingende Konsequenz, ebenso zwingend war der Bau des Schloßersatzes ( Anmerkung des Verfassers: Dieses Mal konnte der Bau nicht wie sein Vorgänger aus dem kurfürstlich-brandenburgischen Sklavenhandel in Westafrika finanziert werden). Falser beschreibt diese Entwicklung als partielle Destruktivität und als Scheinplausibilität. Die momentane Leere mußte gefüllt und die frühere Vertrautheit wiederhergestellt werden. Dazu wurden zahlreiche politische Multiplikatoren eingesetzt, der kritische zweite Blick auf Plan und Werk unterblieb.

Adrian von Buttlar

V. Buttlar hat die Gabe des alten Meisters und schafft Klarheit mit eindeutigen Sprachbildern. Jedes Gebäude steht für eine Erzählung, und diese Erzählung hört nicht auf. Eine Trennung von Form und Inhalt sind nicht möglich. So gibt es nach ihm keine „unschuldige Architektur“. Er gibt den Rat, auf die Sprache zu achten ( Cave Immobilenbranche!), und erinnert daran, dass auch Architektur ihre eigene Sprache hat. Wörtlich bescheinigt er Stella in seinem Schloßnachbau eine postfaschistische Sprache . . . . “ der Innenhof mit seinem Eosanderportal fordere geradezu das Erscheinen eines neuen Machthabers heraus.“ Der Schloßnachbau ermögliche keine neue Form von menschlicher Begegnung.

Daniel Polser präsentiert eine umfangreiche Folge von Bildern, in denen er das Vordergründige, Staffagehafte der gegenwärtigen historisierenden Bauweise entlarvt. Die konzentrierte Zusammenschau ist eindeutig und läßt kaum Zweifel zu, dass hier ein lukrativer Markt geschaffen wurde. Dieser Markt wird weiterhin ohne Rücksicht auf ästhetische Ansprüche ausschließlich renditeorientiert bedient.

Verena Hartbaum

Verena Hartbaum beschreibt den augenblicklich herschenden Historismus als eine Entfremdung der Stadt. Dieser simuliere die Wiederholung der Geschichte aus formaler Sicht. Als Beispiel weist sie auf den Neubau des Hotel Adlon am Pariser Platz hin. Obwohl die Vorgaben des Planwerkes eingehalten werden, ist eine neue Typologie des Bauens entstanden. Es läßt sich in erster Linie vom Interesse des Kunden leiten und orientiert sich vornehmlich am Umsatz. Eine eigene Handschrift des Architekten ist kaum noch erkennbar.
Dabei spricht sie das „Berliner Kartell“ aus Architekten und Stadtplanern an. Beim Potsdamer Platz war der Verwertungsdruck der Investoren so groß, daß man sich die historischen Vorbilder in New York und in Chikago statt in Berlin suchen mußte. Stimmanns Townhouses, unter Preisgabe Schinkels Friedrichwerderscher Kirche gebaut, sicherten dagegen Stadtbürgern ein exklusives Wohngefühl in der Mitte Berlins. Hartbaum beschreibt diese Form des Bauens als Portefeuille-Architektur. Sie zeichne sich durch Versprechungen von Wohnen in Tradition und Exklusivität aus, sichere äußeren Schutz und Werterhalt zu und sei durch und durch ökonomisiert. Sie spricht direkt von einer Bereicherungsökonomie und Ausschlachtung der Vergangenheit. Die Patrimonialisierung, die Wertschöpfung aus Tradition (Tauschek), von Kulturerbe, stellt hier einen oft paradoxen Vorgang dar. Auch sie betont die Rolle des Architekten im politischen Raum. Mit der Frage nach dem geschichtsbewußten Umgang mit der Architektur stelle sich auch die Frage der „mentalen Kultur“.
V. Buttlar meint dazu, daß die meisten Betrachter von Architektur ihre eigenen Kriterien gar nicht reflektieren. Er fordert deshalb eine Erziehung zu Ästhetik und lehnt plebiszitäre Urteile in diesem Zusammenhang ab.
Auf die Frage nach der augenblicklichen Baukultur spricht Hartbaum davon, daß der Markt die Baukultur gehijackt habe, es gehe nur noch um Anpreisung von Produkten, die Baukultur trete auf der Stelle, und sie beklagt den Verlust einer kreativen Architektur. Retro-Architekten würden Geschichte nur noch vortäuschen.
V.Buttlar sieht Walter Benjamins Engel der Geschichte stehen bleiben, die Situation erinnere ihn an eingefrorene Bilder.

Anh-Linh Ngo

Ein gelungener Abend, der viele Fragen aufwirft und für neuen Diskussionsstoff sorgt. Das voll besetzte Auditorium und die aufmerksamen Zuhörer, die gut drei Stunden ausharrten, sprachen für die Qualität der Veranstaltung.

In der weiteren Diskussion wird an Umbaupläne der Frankfurter Paulskirche erinnert. Der Nachkriegsbau soll mit einem Umbau wieder seiner historischen Form ( welcher?) angenähert werden. Damit würde die Geschichte nach 1945, die Schaffung eines Bürgerforums, die jährliche Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mit seinen historischen Reden dem Vergessen preisgegeben werden. Ähnlich ist die Situation in der St.Hedwigskathedrale. Hier wollen die Bischöfe Woelki und Koch die Öffnung zur Unterkirche gegen den Widerstand eines Großteils der Gemeinde schließen. Der Auf- und Umbau in der Nachkriegszeit ist in einer erinnerungswerten Zusammenarbeit zwischen Ost und West entstanden. Er hat durch die Öffnung des Kirchenbodens zur Gruft Bernhard Lichtenbergs das Gedenken an ihn regelmäßig in die Mitte des liturgischen Geschehen gerückt. Von dieser Tradition rückt die Kirchenleitung jetzt ab, beruft sich auf das 2. Vatikanische Konzil und schreckt auch nicht davor zurück, ohne Baugenehmigung den Kirchenboden zu zerstören. Eine Anordnung des Bezirks hat vorläufig eine weitere Zerstörung verhindert.
Auch die Frage nach der Definition der Moderne wird gestellt, ein oft sehr beliebig gebrauchter Begriff. Nach Habermas sollte Moderne immer als ein nicht abgeschlossener Vorgang betrachtet werden, der Antworten auf gesellschaftliche Fragen und berechtigte Kritik möglich macht.
Zum Schluss wurde noch auf Höckes Dresdner Rede verwiesen, in der er den alten Geist in den alten Gebäuden preist und fordert, alte Gebäude umfassend wieder aufzubauen.

In der Zusammenschau wird auch in der Architektur ein eindeutig restauratives Moment sichtbar, so wie in Arch+ Heft 235 beschrieben. Es entsteht ein deutliches Gefühl dafür, daß die jüngste Vergangenheit, wie die Zeit des Dritten Reiches und teilweise auch der DDR, ausgeblendet und dem Vergessen anheim gegeben werden soll.
Vielleicht gibt Höckes Dresdner Rede Architekten in dieser Hinsicht zu denken.
TOL-