„Ihr gebt ihnen ihre Namen zurück“

Wen meinte Daisy, die 87jährige hellwache Budapesterin und Überlebende des Holocaust, als sie am 29. Juli vor einer Gruppe von Freiwilligen diese Worte aussprach?
„Sie“ heißen Erwin Deutsch, Abraham Kohn, Aureline Sajo, Felix Klein und Ferencf Frisch: sie sind im Alter zwischen 18 Jahren – 61 Jahren als ZwangsarbeiterInnen in Budapest verstorben, ermordet durch die deutsche Wehrmacht. Die Besatzung Ungarns von März 1944 – Januar 1945 kostete mehr als 400.000 Juden das Leben.
Ein Privatbus fährt uns an Werktagen hinaus zu dem größten jüdischen Friedhof Ungarns „Kozma utca“, einem weitläufigen Gelände mit alten Grabsteinen und Mausoleen. Wir suchen Reihen von Gräbern der oben genannten ZwangsarbeiterInnen auf, deren Grabsteine von Efeu überwachsen und/oder vollkommen verwittert sind. Die Inschriften sind kaum zu erkennen. Wir befreien diese von Efeu, Erde, Laub und Moos, waschen sie ab und schrubben mit Bürsten solange, bis Buchstaben zu erkennen sind – das ist dann ein bewegender Moment: welches Leben mag sie/er geführt haben? Einige aus der Gruppe setzen sich alleine vor die Grabsteine, konzentriert und gleichzeitig in Nachdenken versunken, andere finden sich paarweise oder in kleinen Gruppen zusammen und plaudern während ihrer Arbeit.
Wer sind „wir“? Eine Gruppe von 15 TeilnehmerInnen, angereist aus Deutschland, Frankreich, Spanien, New York, mit mittel- und südamerikanischen Wurzeln. Die Altersspanne von 18 Jahren – 75 Jahren umfasst drei Generationen. Alle nehmen an einem zweiwöchigen Sommerlager in Budapest teil: dieses wird organisiert von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), gemeinsam mit der Partnerorganisation vor Ort „Mazsike“, dem Ungarischen Jüdischen Kulturbund unter der Leitung von Peter Kirschner. Vera B, Budapesterin mit jahrzehntelangem Wohnsitz in Berlin, hat beide Organisationen an einen Tisch geführt: so wurde das Projekt 2017 ins Leben gerufen. Die Evangelisch- Lutherische Kirche Ungarns übernimmt die Kosten für die Unterkunft in einem zentral gelegenen Studentenheim. Daher müssen die Teilnehmenden lediglich ihren Flug bezahlen und einen Beitrag von 25 bis zu 130 Euro je nach Unterkunft incl. Verpflegung entrichten.
Nach der Rückfahrt zur Unterkunft gegen 14.30 Uhr startete (nach gelegentlicher Pause) ein reichhaltiges Geschichts- und Kulturprogramm: natürlich zunächst der Besuch der Dohany Synagoge, zweitgrößte Synagoge weltweit, wo uns ihr Leiter Rabbi Fröhlich besuchte, später dann auch einer orthodoxen und neologen Synagoge. Die Führungen durch das alte jüdische Viertel erlebte ich als sehr aufrüttelnd: während der Besetzung wurden hier ca. 200.000 Juden zwangsghettoisiert. Einige von ihnen verstarben hier, entkräftet von Hunger und Krankheiten, andere wurden nach Ausschwitz deportiert und ermordet. Ungefähr 70.000 Tausend Juden überlebten den Terror. Wir durften auch das segensreiche Werk der Retter kennenlernen: Raoul Wallenberg (Schweiz), Friedrich Born und Carl Lutz (Schweiz) und Giorgio Perlasca (Spanien).
Beim Besuch der Evangelisch- Lutherischen Gemeinde Budapest erklärte der gastgebende Bischof Fabing, dass es auch hier rettende und schützende Hände während der Besatzung gab. Er beindruckte mich durch ein Zitat Dietrich Bonhoeffers „Nur wer für Juden schreit, darf gregorianisch singen“ (1938), das er in seiner kürzlich ausgestrahlten Rundfunkandacht nannte und damit auf den erstarkenden Antisemitismus in Ungarn anspielte. Neben vielen Führungen und Vorträgen, die „Mazsike” für uns bereithielt, boten auch die beiden Teamerinnen (ASF) eigene Workshops an, um Themen vorzubereiten und zu vertiefen. Während der ersten Woche fand ein Ausflug ins Umland, nach Siofok und Füred (Balaton) statt, der neben Friedhofsarbeiten und Besichtigungen auch ein Badvergnügen bereithielt.
Als Gast nahm ich nur in der zweiten Woche des Sommerlagers teil. Gleichwohl erlebte ich die Vielfalt der TeilnehmerInnen als große Bereicherung. Englisch war unsere „Camp Sprache“. Wenn wir gelegentlich in unsere Heimatsprache verfielen und dies als störend erlebt wurde, erklang das Codewort „pineapple“ – sofort wechselten wir wieder ins Englische.
Am vorletzten Tag erlebten wir nach dem Besuch des Holocaust Museums die Schilderungen zweier Überlebender. Ein 93jähriger Herr wurde im Alter von 17 Jahren nach Ausschwitz-Birkenau deportiert und erschütterte die meisten von uns durch seine detailreichen Schilderungen, u.a. durch seine Begegnungen mit Dr. Mengele. Es war deutlich, wieviel Kraft ihn diese 70minütige Rede kostete.
Daisy, die als 11jährige das Ghetto überlebte, lag der Dank an uns für die Friedensarbeit erkennbar auf dem Herzen: Sie begann und endete ihre Rede mit den Worten großer Wertschätzung. Anschließend schüttelte sie viele Hände – ein größeres Geschenk konnte sie mir nicht mitgeben.
-ith

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) wurde 1958 von evangelischen Christen ins Leben gerufen, getragen von der Überzeugung, daß sich Versöhnung nur entwickeln/ereignen kann, wenn diese von der Tätergeneration und ihren Nachkommen geschieht. So bat man “die Völker, die von uns Gewalt erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun”


Zum dritten Mal konnte ein Mitglied unseres Vereins ein Sommerlager zusammen mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste(ASF) in Budepest organisieren. Eine Teilnehmerin hat dazu einen Gastbeitrag verfasst. Wir bedanken uns herzlich dafür.
Mittlerweile ist dazu auch eine Dokumentarfilm gedreht worden.
redaktion gleis 69