Für mehr als 40 Jahre war für einen Großteil der Historiker die Zeit der deutschen Besatzung und Judenverfolgung in Frankreich durch ein klares Muster bestimmt. Auf der einen Seite das antisemitisch bestimmte Vichy-Regime unter Marschall Petain mit seinen Kollaborateuren und Zuträgern, auf der anderen Seite das gute Frankreich in seinem Bestreben, die Juden zu retten, mit seinen kirchlichen Einrichtungen, der Resistance und den Gaullisten in London. Diese Sicht wurde von Serge Klarsfeld vertreten und 1995 von Präsident Chirac bekräftigt. So vereinfacht wurde sie weltweit, auch in Israel, akzeptiert. Dagegen beschreibt Alain Michel am 13. Februar 2021 in Haaretz eine abweichende Sichtweise.
Der französische Historiker Antoine Prost erklärte die Handlungsweise des Vichy-Regime in einem Klima von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als Versuch, durch die Preisgabe der ausländischen Juden die französischen Juden zu schützen. Bei weiterer Prüfung gibt es auch keine Hinweis darauf, dass sich die Resistance oder die Organisation Freies Frankreich in London besonders um die Rettung der Juden in Frankreich bemüht hätten. Im Gegensatz zu einer größeren Anzahl von Einzelpersonen, die später von Yad Vashem geehrt worden sind. Das doch komplexe Bild von Verfolgung und Hilfe läßt sich erst bei genauerer Betrachtung entschlüsseln.
Ein neuer Aspekt ergibt sich bei der Erforschung der Geschichte, die die jüdischen Pfadfinder in Frankreich schrieben. 1925 von Robert Gamzon gegründet öffneten sie sich in den Dreissiger Jahren allen nur denkbaren jüdischen Richtungen für eine bemerkenswerte Koexistenz. Ihr verbindendes Element war das Einhalten der Speisevorschriften und der Sabbathruhe.
In der Folge bestimmten zunehmend Spiritualität und Beschäftigung mit jüdischer Kultur diesen Jugendverband. In seinem lebendigen Judentum und dem Gemeinschaftserlebnis unterschied er sich deutlich vom bürgerlich bestimmten Leben in den französischen Synagogen. Gleichzeitig fanden aber auch zionistisch-sozialistisch bestimmtes Gedankengut Eingang.
Mit der deutschen Besetzung 1940 zogen sich die meisten jüdischen Pfadfinder in den unbesetzten Süden Frankreichs zurück, stärkten ihre Organisation und schufen landwirtschaftliche Ausbildungslager. Dort erwarben Juden für die Auswanderung nach Palästina notwendige Kenntnisse. Gleichzeitig entstanden so auch Auffangmöglichkeiten für schutzsuchende jüdische Kinder und Jugendliche. Anfangs fasste das Vichy-Regime alle französischen Jugendgruppen unter einer Dachorganisation zusammen und förderte damit auch finanziell die jüdischen Pfadfinder. Später mussten sich alle jüdische Organisationen in der Generalunion der französischen Juden (UGIF) zusammenschließen. Die eigentlichen jüdischen Pfadfinder gingen dann in den christlichen Pfadfindern auf, deren Uniform für sie gleichzeitig einen Schutz bedeutete. Die landwirtschaftliche Ausbildungslager für Juden wurden vom Vichy-Regime weiter geduldet. Dessen Protagonisten Xavier Vallat und Louis Darquier de Pellepoi waren zwar Antisemiten, schützten aber gleichzeitig auch Franzosen. So konnten jüdische Pfadfinder in diesen Lagern weiterhin Widerstand organisieren, aber auch Schutz bieten und die Flucht nach Spanien ermöglichen.
Eine Geschichte, die einen differenzierteren Blick auf das Vichy-Regime ermöglicht.
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