Authentisches Zeitzeugnis an historischem Ort

Dem Artikel von Frau Galit Noga-Banai kann man nur voll und ganz zustimmen. Die Kunsthistorikerin und Professorin an der Hebrew University of Jerusalem setzt sich in der Online-Ausgabe der FAZ vom 17. April 2023 entschieden für den Erhalt der „Wittenberger Judensau“ ein. Dabei sieht sie dieses mittelalterliche Zeugnis des Antisemitismus in untrennbarem Zusammenhang mit dem Mahnmal von 1988 zu seinen Füßen.

Gedenktafel am Fuß von St. Marien in Wittemberg . TAL

Die beiden folgenden Zitate aus dem Artikel erklären ihre Einstellung:

Und damit kommen wir zu einer weiteren bemerkenswerten Wendung dieser Geschichte: 1983 beschloss die Wittenberger Gemeinde, dem Judensau-Relief ein Mahnmal für die jüdischen Opfer
der deutschen Vernichtungspolitik hinzuzufügen. Vor wenigen Wochen stand ich zum ersten Mal
vor dieser von dem Bildhauer Wieland Schmiedel und dem Dichter Jürgen Rennert geschaffenen
„Stätte der Mahnung“. Ins Pflaster des kleinen Platzes vor der Kirchenmauer sind vier von einem
schwarzen Rahmen umgebene Bronzeplatten eingelassen. Ich bemerkte, dass die vier Platten nicht eben mit dem Boden abschließen, sondern leicht hervorstehen, so, als ob sie – oder etwas darunter – aus dem Boden herausbrechen wollten, während die vier Fugen zwischen den Platten ein Kreuz markieren. In den Kreuzfugen sah ich aus Bronze gegossene Steine unterschiedlicher Größe, die aus den Eingeweiden der Erde hervorzuquellen schienen.
Tatsächlich finden sich auf zwei Seiten des schwarzen Rahmens, flankiert von einem Davidstern
und einem Kreuz, auf Hebräisch die Worte des 130. Psalms eingemeißelt: „Aus der Tiefe rufe ich,
Herr, zu dir“, wobei der umschriebene Gottesname Ha-Schem Ha Mphoras verwendet wird. Eine
deutsche Inschrift über alle vier Seiten des Rahmens vervollständigt den axialen Dialog zwischen
Mittelalter und Moderne, zwischen Mauer und Pflaster: „Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.“

und weiter

Mein Blick wanderte immer wieder hin und her, von der Judensau zu den vier Bronzeplatten zu
meinen Füßen. Ich stand wie angewurzelt da, unfähig, mich zu rühren. Mir wurde klar, dass ich in
ganz Deutschland bisher kein einziges Mahnmal gesehen hatte, auf das die Bezeichnung
Gegendenkmal so gut passte wie auf dieses Werk – nicht einmal Alfred Hrdlickas Hamburger
„Gegendenkmal“ von 1982, das dieser Bewegung in der Gedenkkultur den Namen gab.
Die Wittenberger „Stätte der Mahnung“ wurde im November 1988 eingeweiht, ein Jahr vor der
Wende und fünfzig Jahre nach dem Novemberpogrom von 1938. Der umlaufende Text und das aus unsicher gewordenem Boden hervorbrechende Kreuz lehnen sich buchstäblich gegen das
mittelalterliche Relief darüber und den autoritären Prediger in der Kirche auf: durch ihre
Lokalisierung, ihre Gestaltung und ihre mutige Botschaft, die sich nicht scheut, die
Verbindungslinien nachzuziehen, die vom mittelalterlichen Christentum zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und zum Schweigen der Kirche während der Schoa führen.
Was Schmiedel und Rennert visuell und verbal formuliert haben, sollte der Epilog dieser Geschichte sein. Es scheint sinnlos, weitere Gerichte anzurufen. Während ich dort stand, fühlte ich mich im vollen Sinne des Wortes ergriffen, als Jüdin, Israelin und Kunsthistorikerin. Ich konnte mich nicht losreißen von der Kraft, die von diesem Kunstwerk ausging, das nicht allein der Opfer des Antisemitismus gedachte, sondern ein anderes Kunstwerk vor der Beseitigung und Musealisierung bewahrt hatte und das mit diesem gemeinsam zu einem Ruf nach Versöhnung wurde. Es war nicht unsere Petition, es war dieses Gegendenkmal, das erfolgreich die Hand dazu ausstreckte. Ich griff in meine Tasche, nahm einen Olivenzweig, den ich aus meinem Garten in Jerusalem mitgebracht hatte, und legte ihn am Schnittpunkt der Kreuzarme nieder.

Es bleibt zu hoffen, dass auch die nächsten Generationen die Möglichkeit haben, Geschichte zu sehen und zu verstehen, wenn sie vor einem authentischen Zeitzeugnis an historischem Ort stehen. Deshalb muss man dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wünschen, dass er die vorangegangenen Entscheidungen der Gerichte und der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Wittenberg bestätigt.
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