Alfred Grosser ist tot. Er ist in der vergangenen Woche mit 99 Jahren in Paris gestorben. Wolf Scheller hat ihm in der jüdischen Schweizer Wochenschrift Tachles einen prägnanten Nachruf gewidmet. Er würdigt ihn zurecht als großen Friedensvisionär und Humanisten. Wann immer er sich zu Wort gemeldet hat, hatte er Wichtiges zu sagen. Dabei zeichnete ihn aus, dass er in seinen Meinungsäußerungen einem verlässlich konstanten inneren Kompass folgte.
Er stammte aus einer jüdischen Frankfurter Familie, sein Vater war dort Direktor einer Kinderklinik. 1933 floh die Familie nach Frankreich und hatte dort das Glück, bald die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach Grossers Einschätzung hat ihm das das Leben gerettet. Nach Schulbesuch und Studium arbeitete er als Soziologe und Politikwissenschaftler in Forschung und Lehre. Er verfasste zahlreiche Bücher und war regelmäßig mit Kolumnen in der Presse und den Medien vertreten. Hier setzte er sich auch nachdrücklich für die deutsch-französische Versöhnung ein. Das kann man tatsächlich als sein größtes Verdienst betrachten, dass er daran beteiligt war, eine fast hundertjährige Erbfeindschaft zwischen diesen beiden Nachbarvölkern zu überwinden. Wenn man einmal am Hartmannweiler Kopf in den Vogesen oder auf den Schlachtfeldern bei Verdun gestanden hat, kann man das nicht vergessen.
Wolf Schneller charakterisiert ihn so:
Alfred Grosser sah sich selbst als eine Art «Moralpädagoge».Er wollte sein Publikum überzeugen, nicht überrumpeln. Er hielt es da mehr mit dem als jüdischen Litauer geborenen französischen Philosophen Emmanuel Levinas als mit Peter Sloterdijk oder Jean-Paul Sartre. Am nächsten fühlte er sich einem Autor wie Albert Camus, dessen Toleranz er hoch achtete. Überhaupt verachtete er jene, die ihre Meinung als die einzig anzuerkennende Wahrheit verabsolutieren. Grosser wollte aber immer Politik nicht nur erklären, sondern auch betreiben. Als Gelehrter konnte er das aber nur mit Hilfe traditioneller Instrumentarien. Also verfasste er Buch um Buch, arbeitete für Rundfunk und Fernsehen, schrieb daneben für eine Reihe bedeutender Zeitungen, hielt Vorträge. Keine Frage: Grosser, dessen freundliche Zugewandtheit jedem auffiel, der ihn bei solchen Gelegenheiten im Gespräch erlebte, hat sich nicht nur Lob eingehandelt. Umstritten war er vor allem wegen seiner anhaltenden Kritik an der Politik Israels. Den Deutschen hat er immer dazu geraten, kritischer mit dem Staat der Juden umzugehen, ihre Haltung zu Israel zu entkrampfen.
Alfred Grosser war sich seiner Karriere und seiner Privilegien bewusst, die ihm in der Summe ein glückliches Leben ermöglicht hatten. Er verstand sich selbst als Außenseiter: Atheist im katholischen Frankreich und Franzose in Deutschland. Er wurde wegen seiner Glaubwürdigkeit aber auch wegen der Empathie geschätzt, die er den Menschen gegenüber aufbrachte. Zahlreiche Ehrungen belegen das.
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