Robert Doepgen lässt in der Schweizer Wochenschrift Tachles am 5.April 2023 Expats zu Worte kommen, die ihre tiefe Besorgnis über die Spaltung der israelischen Gesellschaft ausrücken.
Wie dramatisch die Lage im Land ist, schildern Erich Bloch und Raphael Steigrad in einem gemeinsamen Gespräch. Steigrad vertritt den Auslandschweizerrat in Israel, Bloch war lange im Vorstand des Rates. Sie haben die Demonstrationen hautnah miterlebt und berichten, dass die gesellschaftliche Polarisierung im Land in zwei Lager dramatische Züge angenommen hat. «Man kann seine jüdische Herzensmeinung heute nicht mehr äußern», konstatiert der Sozialdemokrat Bloch. Er betont, dass die Spaltung des Judentums noch nie so stark gewesen sei wie zurzeit. «Bei politischen Diskussionen reagieren die Leute viel aggressiver als noch vor zehn Jahren. Das ist neu, unbehaglich, ungemütlich und das möchten wir nicht», fügt er an. Der Präsident der Swiss Community Israel (SCI) Raphael Steigrad pflichtet Bloch bei und berichtet: «Bei Gesprächen muss man sehr vorsichtig sein, mit wem man spricht, um keine unnötigen Aggressionen zu erzeugen. Mittlerweile sind zwei Lager entstanden, ähnlich wie bei der Corona-Pandemie zwischen den Impfbefürwortern und Impfgegnern.» Als Netzwerker vor Ort habe er in den letzten Tagen einige Schweizerinnen und Schweizer in Israel kontaktiert. «Ältere Leute schilderten mir, dass sie eine solche Dynamik noch nie erlebt hätten. Viele, die sich sonst nicht für Politik interessieren, waren zum ersten Mal an einer Demonstration.» Bis jetzt sind Auslandschweizerinnen und -schweizer vom Absturz des Schekels kaum betroffen. Doch die Lebensmittelpreise sind um 20 Prozent gestiegen – für viele Familien fatal. «In dieser Situation kann ich verstehen, dass sich weniger gut situierte Menschen ärgern und protestieren.» Erich Bloch hat Ähnliches erlebt: «Meine Frau und ich waren gestern in einem Supermarkt und haben Frauen gesehen, die Lebensmittel für Pessach einkauften. Im Laden mussten viele Waren, vor allem Fleisch, zurückgelegt werden, weil die Kreditkarten nicht gedeckt waren. Es ist eine Tragödie.» Für beide bleibt ein Fragezeichen, ob sich solche Familien politisch nach rechts orientieren oder ob sie wieder in die politische Mitte zurückfinden.
Beide sehen den Grund für die anhaltende Unruhe in Israelin der Politik der aktuellen Regierung.
Mit der Verschiebung der Justizreform sei noch kein Befreiungsschlag gelungen, aber eine Atempause, so Bloch. Jetzt komme es darauf an, dass über die Feiertage Ruhe in die Familien einkehre. Trotzdem bleiben beide besorgt. Falls kein Kompromiss gefunden werden kann, werden die Probleme bald wieder aufflammen, meint Steigrad. Die Krise sei noch nicht überwunden, sondern nur aufgeschoben. «Es gibt verschiedene Ansätze, um eine Verbesserung erzielen zu können. Die Funktion des Obersten Gerichts muss überarbeitet werden, eine echte Verfassung sollte endlich erstellt werden, und ein Zwei-Kammer-Parlament wären sicherlich ein guter Weg.» Als Präsident der SCI sieht er seine Aufgabe darin, Brücken zu bauen und alle Schweizer an einen gemeinsamen Tisch zu bringen, unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Einstellung. «Wir haben alle unterschiedliche Vorstellungen und vielleicht auch unterschiedliche Kulturen. Wir müssen auch nicht immer alle einer Meinung sein. Aber wir sollten uns zumindest akzeptieren und respektieren.» Er habe schon von Familien gehört, die ernsthaft über eine Rückkehr in die Schweiz nachdenken. Für Steigrad und Bloch ist aber klar: «Wir wollen die Leute nicht ermuntern, in die Schweiz zurückzukehren.» Auch für Erich Bloch gibt es eine verbindende Devise: «Wir sollten uns vertragen, ohne uns in den Armen liegen zu müssen. Als Sozialdemokrat wünsche ich mir eine Regierung der Mitte, die vom Volk getragen wird.» Obwohl sie oft unterschiedlicher Meinung sind, gehen Bloch und Steigrad regelmäßig gemeinsam in dasselbe Restaurant. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten scheint der gegenseitige Respekt stark genug zu sein, um politische Differenzen zu überwinden und gemeinsame Treffen zu genießen.
Ähnlich äußert sich der Metzgermeister Marcel Hess, der vor 2000 seine Aliya machte.
Mit Sorge blickt auch er [Marcel Hess] auf die letzten Tage in Israel. In der Schweiz als «Kosher Sausage King» bekannt, wanderte Hess kurz vor der Jahrtausendwende nach Israel aus. Im Gespräch übt der Metzgermeister scharfe Kritik an der israelischen Regierung. «Schon am 29. November letzten Jahres, nach der Wahl der Regierung, habe ich meinen Freunden auf Whatsapp geschrieben, dass wir demonstrieren müssen. Nicht mit Tausenden, sondern mit Millionen. Meine Freunde schreiben mir jetzt, dass ich leider recht hatte.» Verantwortlich für die Lage sieht er vor allem den langjährigen Premierminister: «Schuld an der aktuellen politischen Krise ist allein Netanyahu, ad personam.» Man könne den Politiker Netanyahu von 2015 nicht mit dem von 2023 vergleichen. «Das sind zwei völlig verschiedene Charaktere.» Die jetzige Regierung habe sich nur mit sich selbst beschäftigt, statt Politik für das Volk zu machen. Dagegen habe sich die Bevölkerung erfolgreich zur Wehr gesetzt. «Ich war selbst auf fünf verschiedenen Demonstrationen. Ich habe mir gedacht: Jetzt müssen alle gehen.» Wie Bloch und Steigrad glaubt auch Hess, dass die grossen Demonstrationen nun erst einmal aufgeschoben sind: «Ich rechne damit, dass der Waffenstillstand bis Ende Mai hält. Jetzt wissen alle, dass die Regierung Konkordanzen schliessen und die Meinung der anderen akzeptieren muss. Sie muss endlich das Land führen und ihre Aufgaben wahrnehmen. Das haben die Minister bis heute nicht getan.» Hess erklärt, inwiefern die Regierung versagt hat: «Unsere Demokratie beruht auf drei Säulen: Exekutive, Legislative und Judikative. Und anstatt ihre Aufgabe als Exekutive wahrzunehmen, haben sie versucht, die Judikative zu umgehen. Das darf in einem demokratischen Land nicht passieren.» Auch deshalb glaubt Hess, dass die Regierung nicht lange halten wird: «Ich wäre überrascht, wenn sie ein Jahr im Amt überlebt.»
Als Vertreter der jüngeren israelischen Generation äußert sich Uri Zer-Aviv deutlich kritischer über die aktuelle politische Situation in seinem Land.
Als Musikkritiker fühlt Uri Zer-Aviv in Israel den musikalischen Puls der Zeit. Der junge Mann moderiert eine Indie-Radiosendung und arbeitet hauptberuflich als Kreativer für den New Israel Fund (NIF). Er nennt die Justizreform einen «erbärmlichen Putsch» und ist nicht nur als Bürger beunruhigt, der mit ansehen muss, wie sich sein geliebtes Heimatland in einen unruhigen und gewalttätigen Ort verwandelt. Er ist sich auch nicht sicher, ob man an diesem Ort Kinder grossziehen sollte. Bei NIF versucht er, die Menschen über Fake News aufzuklären, Proteste in den Randgebieten Israels zu unterstützen und verhafteten Demonstranten mit Rechtsbeistand zu helfen. «Wir müssen uns daran erinnern, dass wir eine gerechtere Demokratie anstreben müssen und nicht einfach das Rad der Zeit zurückdrehen können», sagt Zer-Aviv. Für ihn war Israel in den vergangenen Jahren kein gutes Beispiel für eine Demokratie. «Man kann nicht behaupten, ein vollkommen demokratisches Land zu sein und gleichzeitig das palästinensische Volk ausserhalb unserer legalen Grenzen besetzen und unterdrücken und es innerhalb unserer Grenzen diskriminieren. Das ist nur die Spitze dessen, was wir tun.» Es sei traurig, dass der Premierminister von benachteiligten Bevölkerungsgruppen unterstützt werde, obwohl diese am meisten unter den negativen Entwicklungen zu leiden hätten. Doch Zer-Aviv schöpft auch Hoffnung: «Was ich vor zwei Tagen auf den Strassen von Tel Aviv gesehen habe, diesen spontanen Ausbruch von Energie, Wut, Hoffnung und Kreativität, das werde ich nie vergessen. Und es gibt mir Hoffnung. Das Optimistischste an den Ereignissen der letzten Tage ist für mich, dass die schlafende Mehrheit endlich aufgewacht ist. Man muss kein radikaler Linker sein, um sich der Tyrannei zu widersetzen.»
Die Israelin und US-Amerikanerin Noa Tishby nimmt mit einem anderen politischen Hintergrund zu der Politik der Regierung Netanyahus ebenfalls kritisch Stellung. Aufgrund ihrer eindeutigen Ablehnung hat Ministerpräsident Netanyahu sie gerade als «Sondergesandte für die Bekämpfung des Antisemitismus und der Delegitimierung Israels» entlassen.
«Mit Enttäuschung und Trauer, aber anhaltender Entschlossenheit» hat die Schauspielerin Noa Tishby über ihre Entlassung als «Sondergesandte für die Bekämpfung des Antisemitismus und der Delegitimierung Israels» durch die Netanyahu-Regierung am Wochenende reagiert. Die Doppelbürgerin Israels und der USA war durch öffentliche Auftritte und ihren Bestseller «Israel» bekannt geworden, der Argumente von Gegnern des jüdischen Staates detailliert zu entkräften sucht. Doch Mitte März hatte die 47-jährige Nachfahrin zionistischer Pioniere die vom Kabinett Netanyahu geplante Entmachtung der Justiz als «Coup» kritisiert. Die Entlassung erfolgte indes ohne Bezug darauf oder sonstige Begründung.
Wahre Patriotismus erfordere das Einstehen für die Werte und Prinzipien, die das Fundament Israels bilden: «Auch wenn dies bedeutet, Regierungen in Frage zu stellen oder Widerstand gegen diese zu leisten»
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